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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Das Gedicht der Traurigkeit



svenja-h
24.07.2007, 07:14
Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war
wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den
frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei der zusammengekauerten
Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen.
Das Wesen, das da im Staub auf dem Wege saß, schien fast körperlos. Sie
erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen. Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: "Wer bist du?"

Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. "Ich? Ich bin die Traurigkeit",
flüsterte die Stimme stockend und leise, dass sie kaum zu hören war.
"Ach, die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie
eine alte Bekannte grüßen.

"Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch.

"Natürlich kenne ich dich! Immer wieder hast du mich ein Stück des Weges begleitet."

"Ja, aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht
vor mir? Hast du denn keine Angst?"

"Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst
nur zu gut, dass du jeden Flüchtling einholst. Aber, was ich dich fragen
will: Warum siehst du so mutlos aus?"

"Ich... bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.

"Die kleine alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte
sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich
so bedrückt."

Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören
wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. "Ach, weißt du", begann sie zögernd und äußerst verwundert, "es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest." Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: Man muss sich nur zusammenreißen. Und spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten
Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol
und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."

"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft
begegnet."

Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu."

Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und
schließlich ganz verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlte, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. "Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt."

Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete
erstaunt ihre neue Gefährtin: "Aber ... aber - wer bist eigentlich du?"

"Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen. "Ich bin die Hoffnung."

(Inge Wuthe)

Die Traurigkeit ist uns gegeben,
die Hoffnung aber, schenkt das Leben.
Beide ziehen durch das Land.

...Glücklich sei Jeder, der Trost in der Hoffnung fand.

Popcorn
24.07.2007, 11:46
Liebe Svenja

Ich bin berührt über diese Geschichte, denn darin finde ich mich selber wieder. Bin auch immer wieder versucht zu schminken, auch gerade jetzt in dieser Zeit. Dabei gehören schwere Wege einfach zum Leben, ja ist Bestandteil zu einem erfüllten Leben. Wenn ich Biografien lese, da gibts immer schwere Stunden und Trauer. Ich denke, dort wo alles immer nur "Zuckerlecken" war, diese Menschen haben gar nichts zu erzählen, weil es unter geht in der Oberflächlichkeit, dort fehlt auch oft die Dankbarkeit.

Herzlichen Danke Svenja.

Shalom

Deine Popcorn

Jumperli
24.07.2007, 13:18
Danke Svenja, das ist sehr schön...
ja wie oft laufen wir davon, auch gerade jetzt in der Zeit, wo Gefühle zeigen zu den Schwächen gezählt wird. Aber wenn die Menschen mal offenen wären den Gefühlen Raum zu geben, würde es vielen besser gehen.

Jumperli

sunflowertanja
01.09.2007, 11:19
Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen.

Das durfte ich für mich annehmen...

Wie schön, daß Frau Traurigkeit nicht alleine ist, sondern von Frau Hoffnung begleitet wird...schöne Geschichte!

Herties
07.09.2007, 00:24
Manchmal ist aber die Frau Hoffnung noch sehr weit entfernt und man sieht sie kaum und die Traurigkeit erdrückt uns. Manchmal lassen die Tränen nicht nach und man sieht kein Licht........

Origenes
07.09.2007, 12:58
Liebe "Herties",

ich habe in den letzten Tagen hier im Chat vom Grund Eurer Trauer erfahren.
Auch, wenn wir uns bisher nicht kennen, empfinde ich aufrichtige Teilnahme.
Jemand wie ich, der selber noch keinen geliebten Menschen verloren hat, kann vielleicht nicht empfinden, wie Ihr Euch fühlt. Aber da ich selber einen Sohn habe, den ich über alles liebe, bilde ich mir doch ein, zu wissen, wie schwer der Verlust sein muss...

Aber dennoch glaube ich, dass auch Ihr zur rechten Zeit wieder Freude im Herzen tragen werdet.

Vor kurzem las ich das folgende kurze Gedicht, das Euch auf Eurem schweren Weg helfen möge:

"Unsere Toten sind nicht abwesend,
sondern nur unsichtbar.
Sie schauen mit ihren Augen voller Licht
in unser Augen voller Trauer."
(Augustinus)

Habt Mut im Herzen und GOTTES Licht!

GOTT zum Gruß!
Origenes

Herties
19.09.2007, 22:48
Danke Origenes für deine Ermutigung und das kurze Gedicht.

Lieber Gruß Nina

svenja-h
21.09.2007, 08:59
Hallo Herties, auch ich habe vor fast 3 Jahren meine Mama verloren und es schmerzt immernoch, es schmerzt sehr. Als ich sehr traurig war, da hat mir jemand geschrieben, als mal ein kleiner Junge im Sterben lag hat er seiner Mutter beim Abschied gesagt: Im Himmel wird wohl wieder ein Engel gebraucht. Vielleicht ist dieser Junge heute der Schutzengel seiner Mutter. So glaube ich auch fest daran, dass meine Mama mein Schutzengel ist. Weisst Du, Dietrich Bonhoefer hat einmal folgendes gesagt:

Wir treten aus dem Schatten in ein helles Licht.
Wir treten durch den Vorhang vor Gottes Angesicht.
Wir legen ab die Bürde, das müde Erdenkleid -
sind fertig mit den Sorgen und mit all dem Leid.
Wir treten aus dem Dunkel nun in ein helles Licht -
warum wir's sterben nennen? Ich weiß es nicht.

Kerze
21.09.2007, 10:01
Liebe Svenja, Du liebe Poetin, es ist schön, dass Du hier bist.
Ich denk im Gebet an Dich.

Grüssle von Kerze