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Larson
15.06.2008, 16:19
Der Dorfdepp

Manchmal ärgerte ich mich über ihn. Beispielsweise, wenn er, schmuddelig und mit verfilzt und verschwitzt aussehendem Schopfe vor dem Haus des örtlichen Getränkehändlers an der Gehsteigkante stand, in einer Hand die unvermeidliche Flasche Bier und in der anderen Hand die ebenso unvermeidliche Zigarette. Er war eher klein von Gestalt, mit rundem Kopf, einem meistens unrasiertem Gesicht in dem zwei kleine Augen von tiefdunklen Schatten umrandet lagen. Wir kannten einander - wie man einander eben kennt, wenn man sich beinahe täglich sieht, jedoch nie ein Wort miteinander wechselt.

Er - er war der „Schlucksl“. So genannt, weil es eigentlich niemanden gab, der ihn jemals ohne Flasche Bier in der Hand gesehen hatte. Er war der „Paria“ unseres Dorfes, einer, über den man sich, je nach Ausgangssituation, ereiferte, ärgerte, amüsierte, den man belächelte, verspottete, in dessen Gegenwart man die Nase rümpfte und sich voll Abscheu von den ihn umgebenden Gerüchen abwandte, einer, der auch schon mal, wenn junge Burschen aus dem Dorf angetrunken ihr Mütchen zu kühlen suchten, „Dresche“ bezog oder mit Tritten oder Püffen wie ein herrenloser Hund davongejagd wurde. Er war einer, der junge Mädels plump auf der Straße ansprach, der Ältere mit dumpfen Sprüchen beehrte und die, die mit erhobener Nase an ihm vorübereilten, mit wieherndem Gelächter und beißendem Spott zur Weißglut treiben konnte. Er war der, der bei jeder kleinsten Dorfsensation - sei es Wasserohrbruch, Viehdiebstahl, totgefahrene Katze oder Verkehrsunfall - als erster vor Ort auftauchte, als wäre er derjenige, der das aktuelle „Event“ gerade inszeniert hatte. Er war es, der in solchen Fällen auch stets die besten Ratschläge anzubringen wußte. Er war es, der beim Verladen des Sarges dem Toten mit einem Bier in der Hand zugröhlte: „Prost, altes Haus, jetzt hat er dich auch kassiert. Wart‘ nur, deine Witwe wird schon Trost finden...“

Schlucksl war es aber auch, der bei dem Feuer in dem Haus, in dem eine kurdische Familie wohnte, hinzugeeilt war, als von der Feuerwehr noch niemand zu sehen und zu hören war und schnell, wortlos und mit viel Mut und Geschick drei kleine Kinder aus den tobenden Flammen holte und dann auch noch - selbst schon mit rauchenden Kleidern - deren beiden Eltern ins rettende Freie brachte. Drei Wochen lang soll er danach halb tot auf seiner Bettstatt im Nachbarort gelegen haben - das alles jedoch erfuhr man nicht von ihm. Eines Tages stand er eben wieder auf seinem gewohnten Platz, zeigte vorüberfahrenden Autofahrern den „Stinkefinger“ und gröhlte mit seiner heiseren, rauchigen Stimme aus einem Mund, in dem kaum noch Zähne erkennbar waren. Wiederum war es Schlucksl, der in aller Heimlichkeit der alten Frau Traueralt aus dem Bus half und ihr ihre schweren Einkaufstaschen durch das ganze Dorf in ihr kleines und halbverfalles Häuschen brachte. Gesehen haben will es allerdings niemand.

Er war es auch, der sonntags oft in üblicher Staffage vor dem Kirchentor stand und die die Kirche verlassenden Gottesdienstbesucher um eine „milde Gabe“ anbettelte und bei Nichterfolg wütend und schmollend pöbelte und spottete.

Ja, Schlucksl war ein unbedingt liebenswerter Bursche - der vermutlich unbeliebteste und unwichtigste Mensch in unserem Dorfe, den niemand brauchte und niemand vermißte und dem wohl auch niemand je eine Träne nachweinen würde, wenn er denn irgendwann seinen letzten Gang antreten würde.

Doch wenn er einmal - wie damals nach dem Brand bei den Kurden - fehlte und zwei Tage nicht auf der Straße erschien - und zwar Sommers wie Winters - dann hörte man alsbald Fragen wie: „Schlucksl krank?“ oder „Wo ist denn der freche Hund, pennt er sich wieder seinen Rausch aus?“ und ähnliche schmeichlerische Gedanken. Einmal - so hörte man später - war er einige Wochen nicht dagewesen. Er fehlte einfach und als er endlich wieder auf der Straße stand, antwortete er auf diesbezügliche Fragen immer nur mit seinem unvollkommenen Gebiß grinsend: Er habe endlich einmal Urlaub gemacht.

Erst viel später wurden Gerüchte laut, in denen von „Krebsbehandlung“ die Rede war. Bewiesen wurden diese Gerüchte indessen nie.

Wie alt Schlucksl war, wußte vermutlich niemand. Eines Tages - es war ein etwas diesiger und nebelfeuchter Novembertag - stand er an bekanntem Platze, seine Zigarette rauchend und sein Bier trinkend. Drei Menschen, die dabei gewesen waren berichteten nachher übereinstimmend, daß Schlucksl wieder einmal einem Fahrer in einer Nobelkarosse hintergescholten habe, da streckte er plötzlich den Arm mit der Bierflasche weit von sich, daß das Gebräu schäumend auf die Straße spritzte, krampfte sich zusammen, ließ seine Zigarette aus dem Mund fallen und war tot, noch bevor er fallend den Erdboden erreicht hatte. Seine Bierflasche rollte klackernd den Rinnstein entlang, bis ihr letzter Inhalt sich in den Gully ergoß. Der Zigarettenstummel verglomm auf der Gehwegkante. Der herbeigerufene Dorfarzt stellte, wie erwartet, seinen Tod fest und veranlaßte alles weitere. Die schmuddeligen Überreste wurden von der Feuerwehr in einem Sarg geladen und davongefahren und nachdem Schlucksl solchermaßen ein letztes Mal für Gesprächsstoff gesorgt hatte - „War ja zu erwarten gewesen - starb wie er lebte - verreckt wie ein Vieh - gottloser Heide - alter Saufaus - kein Mädchen konnte er in Frieden lassen....“ kehrte langsam Ruhe um ihn ein.

Viele Jahre lang hatte Schlucksl das Dorf mit seiner Gegenwart beehrt. Er hatte den Ladenbesitzer geärgert, weil er das Bier, welches Schlucksl bei ihm kaufte, auch gleich im Laden trank und es deswegen mehrfach Ärger mit der Behörde gab. Denn schließlich hatte der Ladenbesitzer keine Schanklizenz. Doch Schlucksl schien sich einen Spaß daraus zu machen, solche Vorfälle immer wieder zu provozieren. Selbst als der Ladenbesitzer Schlucksl Hausverbot erteilte, kümmerte dieses das nicht. Er holte sich sein Bier, entrichtete den Preis und trank. Erst, als der Ladenbesitzer seine Lektion gelernt hatte und Schlucksl mit seiner Flasche Bier unbehelligt stehen ließ, verlor dieser bald den Spaß an dem skurrilen Spiel.

Mit Schlucksl verschwand eine Art von Mensch aus unserem Dorf, welchem vor langer Zeit vielleicht noch der Begriff des „Faktotum“ zugewiesen worden wäre. Doch er starb und seine Existenz endete einfach als „der Dorfdepp“. Meistens betrunken und jederzeit geeignet, der Jugend als schlechtes Beispiel dienen zu können.

Larson
15.06.2008, 16:20
Die Jahre gingen dahin, Name und Person verschwanden in den Langzeiterinnerungen vieler Menschen, die ihn gekannt hatten und wuchsen im Sagenschatz des einen oder anderen Bewohners zu einer skurrilen Art von Held - ein Eulenspiegel, der wohl aber „nicht ganz richtig“ gewesen sein soll.

Es war ein sonnenklarer Spätsommertag gewesen und er hatte an jenem Sonntag so sattgolden über dem Land gelegen, wie ein reifer Wein sich in seinem funkelnden Glase rekelt. Als die Sonne sich senkte und die Farbe ihres Lichtes von hellem Gold in kupfernes Rot zu ändern begann, ergriff mich die Lust, noch ein wenig an die Luft zu gehen.

Es gibt eine Stelle, an die es mich immer wieder hinzieht. Von dort kann man weit ins Land hineinschauen und dennoch nur wenige Meter weiter rasch in einem kühlenden Meer von grünen Blättern eintauchen, um von dort stundenlange Waldspaziergänge zu unternehmen.

Als ich den Ort erreicht hatte, stellte ich meinen Wagen in einem kleinen Feldweg ab und stieg aus. Ein ganz leiser Wind hatte sich erhoben und fächelte über die Ebene. Die Obstbäume um mich herum raschelten zuweilen mit ihrem sich langsam färbenden Laub. Ab und an fiel mit leisem dunklem Plumps ein Apfel oder eine Birne zu Boden. Tief sog ich die herbe Luft in mich ein. Es roch ein wenig nach Erde, nach trockenem Gras und dürrem Laub, und vom Wald her zog ein dünner, moschusartiger Duft nach Humus und Pilzen herüber.

Ich nahm den Weg unter die Füße und schritt dem Walde zu. In die Stille hinein war nur das behutsame Rascheln von Laub und Gras zu hören und ab und an schmetterte ein Vogel sein Abendlied über die Felder.

Je mehr ich mich dem Wald näherte, desto fremder schien er mir zu werden. Zuerst bemerkte ich diesen Umstand nicht. Doch als ich registrierte, daß das Licht viel schneller, als um diese Jahreszeit normal, einer fremdartigen Dunkelheit wich, beschlich mich zunehmendes Unbehagen. Nur noch ein fahler Schein erleuchtete den Weg vor mir, die Umgebung um mich herum blieb weitgehend im Dunkel verborgen. Ich bekam Zweifel, ob ich wirklich weitergehen sollte und hatte mich schon zum Umkehr entschlossen, als ich vor mir Lichter durch die Bäume sah. Beinahe etwas erleichtert beschleunigte ich meinen Schritt und gelangte wenig später in ein Dorf, welches meinem Heimatort vollkommen glich. Die Hauptstraße lag gelb-rot beleuchtet von Straßenlaternen vor mir, schon von hier erkennbar lag das Rathaus rechts, etwas versetzt hinter der Kirche, davor der Parkplatz, der dort vor wenigen Jahren eingerichtet worden war. Ich hielt inne. Wie war das möglich? Hatte ich das Dorf doch wenig zuvor verlassen und mich davon entfernt. Wie konnte ich jetzt auf der Dorfstraße stehen?

Ich zwinkerte etwas, schloß kurz die Augen - und stand plötzlich im Licht der wärmenden Sonne auf unserem Rathausplatz. Leise, liebliche Töne hörte ich, ohne indessen den Ort ihrer Herkunft bestimmen zu können. Sie schienen den Himmel zu erfüllen und waren überall in gleichem Maße vernehmbar. Das Licht schien noch goldener als sowieso schon an diesem Tag und sogar die Häuser, Straßen, ja Bäume und andere Pflanzen schimmerten in warmgoldenen Schein. Als ich einige Schritte auf unser Rathaus zutrat erkannte ich, daß es völlig wie mit Gold überzogen zu sein schein. Neugierig schritt ich die Treppe hinauf zum Eingang des Rathauses. Die gläserne Tür schimmerte goldfarben und öffnete sich ohne mein Zutun. Im Inneren des mir als „Rathausflur“ bekannten Raumes herrschte das gleiche helle, warmgoldene Licht, wie schon draußen.

Ich blieb verwirrt stehen. Was sah ich hier? Welcher Illusion erlag ich? Hatte mich auf meinem Spaziergang der Schlag getroffen - und wo um alles in der Welt war ich denn nun? Wo war ...

Jetzt schossen mir Gedanken durch den Kopf. Alles golden - alles - aus? Gold?? Meine Schritte auf dem goldfarbenen Fußboden klangen anders, als ich es kannte. Es waren außer der betörend lieblichen und gleichzeitig überwältigend majestätischen Musik keine anderen Geräusche hörbar.

Sollte das der Himmel sein? Ich - im Himmel??

Freilich - ich hatte mir vorgestellt, daß ich nach meinem Tode in den Himmel - ins Paradies käme. Daß das jedoch so völlig übergangslos, fast unmerklich, beinahe so wie nebenbei geschehen würde - das verblüffte mich sehr.

Meine Stimme klang zaghaft dünn, als ich fragte: „Ist noch jemand hier?“ Und ich fuhr mit fürchterlichem Schrecken zusammen, als mir eine rauhe, harsche - und irgendwie vertraute - Stimme laut, aber durchaus freundlich antwortete: „Aber klar ist noch jemand hier! Kennst Du den alten Schlucksl denn nicht mehr?“, und sein rauhes kehliges Lachen füllte meine Ohren. Eine Gestalt trat mir vor die Augen, in der ich zweifelsfrei den alten Schlucksl, den Dorfdeppen, den Paria unseres Dorfes, erkennen konnte. Ich kann in diesem Augenblick nicht geistreich ausgesehen haben.

Freundlich lächelnd kam er auf mich zu und es war nichts von dem in seinem Lächeln erkennbar, was mich früher so geärgert und was wohl auch andere Menschen provoziert hatte. Er legte mir beide Hände auf die Schultern, daß mir ein warmer Strom durch die Glieder rann und sagte: „Jaja, ich weiß. Ich war keine berühmte Nummer in unserem Dorf. Ich hab‘ viele geärgert und hab‘ ein fürchterliches Leben geführt. Ich war einfach nichts wert im Dorf...“

Und er berichtete mir von seinem Leben voller glücklicher und unglücklicher Wechselfälle, wobei die unglücklichen bei weitem überwogen. „Jesus bin ich was wert“, sagte er mir zum Schluß unserer Begegnung. „Sieh Dich um, wo ich alter Säufer gelandet bin.“ Ich war sehr verlegen, als er mir so freundlich in die Augen sah. Ich wußte nichts, was ich hätte sagen können. Schließlich nahm er meine Rechte in seine beiden Hände, drückte sie warm und sagte: „Sehen wir uns wieder?“

Ich nickte nur, sprechen konnte ich nicht.

Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich die sinkende Sonne eben noch hinter dem Wald auf unserer Höhe verschwinden. Nachdenklich schritt ich meinen Weg voran.