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Fisch
07.09.2006, 13:59
Eine lange aber sehr lesenswerte Geschichte.
Hat mich echt berührt und zum nachdenken gebracht.

Eure
Fisch

Der glückliche Prinz

Hoch über der Stadt, auf einem schlanken Sockel stand der Glückliche Prinz. Sein Leib war mit feinem, glänzenden Gold überzogen; die Augen waren zwei helle Saphire, und an seinem Degengriff glühte ein großer, blutroter Rubin. Alle Leute bewunderten ihn sehr.
Eines Nachts aber flog eine zierliche Schwalbe über die Stadt. Schon vor sechs Wochen hatten ihre Freunde sie verlassen, nur sie allein war zurückgeblieben, weil sie das wunderschöne Schilfrohr so liebte. Im Frühjahr war sie ihm begegnet, als sie hinter einem großen gelben Schmetterling her den Strom hinabgeflogen war.
„Ein lächerliches Verhältnis“, zwitscherten die anderen Schwalben, und als dann der Herbst kam, flogen sie fort.
Die Zurückgebliebene fühlte sich einsam, und allmählich wurde sie des geliebten Schilfrohrs überdrüssig. „Es spricht nicht“, sagte sie, „und ich fürchte, es ist gefallsüchtig; denn immer kokettiert es mit dem Wind.“
Also flog die Schwalbe fort, sie flog den ganzen Tag und kam am Abend in die Stadt. Wo soll ich übernachten? dachte sie. Ich will doch hoffen, das die Stadt dafür gesorgt hat.
Da erblickte sie eine Statue auf einem schlanken Sockel. „Dort will ich übernachten“, rief sie, „das ist ein herrlicher Platz mit viel frischer Luft.“ Dann ließ sie sich gerade zwischen den Füßen des Glücklichen Prinzen nieder.
Ich habe ein goldenes Schlafgemach, sagte die Schwalbe staunend zu sich selbst. Sie sah sich um und bereitete sich zum Schlafen vor; aber gerade, als sie ihr Köpfchen unter den Flügel stecken wollte, fiel ein dicker Wassertropfen auf sie. „Nicht eine einzige Wolke ist am Himmel, die Sterne sind hell und klar, und trotzdem regnet es. Schrecklich ist das Klima hier im Norden Europas. Das Schilfrohr allerdings liebt den Regen; aber das macht wohl seine Selbstsucht.“
Da fiel ein zweiter Tropfen.
„Wozu ist denn eine Statue nütze, wenn sie nicht den Regen abhalten kann?“, sagte sie. „Ich werde mich wohl doch nach einem guten Schornstein umsehen müssen.“ Und die Schwalbe beschloß fortzufliegen. Aber noch ehe sie ihre Flügel öffnen konnte, fiel ein dritter Tropfen. Da blickte sie empor und sah - oh, was sah sie dort?
Die Augen des Glücklichen Prinzen waren mit Tränen erfüllt, und Tränen rannen über die goldenen Wangen und tropften herab. Und im Mondlicht war sein Antlitz so schön, daß die Schwalbe tiefes Mitleid empfand.
„Wer bist du?“ fragte sie.
„Ich bin der Glückliche Prinz.“
„Warum weinst du dann?“ fragte die Schwalbe.
„Damals, als ich noch lebte, und ein schlagendes Herz hatte“, antwortete die Statue, „wußte ich nicht, was Tränen sind, denn ich lebte im Palast von Sanssouci, den die Sorge nicht betreten darf. Tagsüber spielte ich mit meinen Gefährten, und am Abend führte ich den Tanz an im Großen Saal. Die Höflinge nannten mich ›Glücklicher Prinz‹, und als ich tot war, stellten sie mich hier so hoch herauf, daß ich alle Häßlichkeit und alles Elend meiner Stadt sehen muß. Und nichts bleibt mir, als zu weinen, wenngleich mein Herz von Blei ist.“
Was, er ist nicht ganz aus Gold? dachte die Schwalbe, war aber doch höflich genug, diesen Gedanken nicht auszusprechen.
„Weit von hier“, fuhr die Statue mit leiser Stimme fort, „weit von hier steht ein ärmliches Haus in einer schmalen Straße. Eines der Fenster ist offen und so kann ich eine Frau an einem Tisch sitzen sehen. Ihr Gesicht ist hager und verhärmt, und sie hat rauhe rote Hände, von Nadeln zerstochen; sie ist eine Näherin. Sie stickt Passionsblumen in die Seidenrobe, die die lieblichste der Ehrendamen der Königin auf dem nächsten Hofball tragen wird. In einer Ecke liegt ihr kleiner Sohn krank im Bett. Er hat Fieber und verlangt nach Orangen. Seine Mutter aber hat nichts für ihn als Wasser vom Fluß. Deshalb weint er. Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe, willst du ihr nicht den Rubin bringen von meinem Degengriff?“
„Man erwartet mich in Ägypten“, sagte die Schwalbe. „Meine Freunde fliegen am Nil und reden mit den großen Lotosblüten.“
„Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe“, sagte der Prinz, „willst du nicht eine Nacht noch bei mir bleiben und mein Bote sein?“
Der Glückliche Prinz blickte so traurig, daß er der kleinen Schwalbe leid tat. „Es ist sehr kalt hier“, sagte sie, „doch will ich eine Nacht bei dir bleiben und dein Bote sein.“
„Ich danke dir, kleine Schwalbe“, sagte der Prinz.
Und die Schwalbe nahm den großen Rubin aus des Prinzen Degen und flog damit über die Dächer der Stadt.
Endlich kam sie zu dem ärmlichen Haus und blickte hinein. Der Knabe wälzte sich fiebernd im Bett, und die Mutter war eingeschlafen, so müde war sie. Da flog die Schwalbe in das Zimmer und legte den großen Rubin auf den Tisch neben den Fingerhut der Frau. Dann fächelte sie, leicht über dem Bett schwebend, die Stirn des Kindes mit ihren Flügeln. „Wie wohl das tut“, flüsterte der Knabe, „vielleicht wird mir besser“, und sank in köstlichen Schlummer.
Als der Tag anbrach, flog die Schwalbe zum Fluß und badete. „Heute Abend fliege ich nach Ägypten“, sagte sie und war sehr fröhlich bei diesem Gedanken.
Als der Mond aufstieg, kam sie wieder zum Glücklichen Prinzen. „Hast du nichts zu bestellen für Ägypten?“ fragte sie. „Ich reise ab!“
„Ach Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe“, sagte der Prinz, „willst du nicht eine Nacht noch bei mir bleiben?“
„Man erwartet mich in Ägypten“, antwortete die Schwalbe. „Morgen fliegen meine Freunde zum zweiten Katarakt.“
„Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe“, sagte der Prinz, „weit weg am anderen Ende der Stadt sehe ich einen jungen Mann in der Mansarde. Er beugt sich über einen Tisch, der mit Schreibpapier bedeckt ist. Er will ein Schauspiel für den Theaterdirektor vollenden; aber ihn friert so sehr, daß er nicht mehr schreiben kann.“
„Ich will noch eine Nacht bleiben“, sagte die Schwalbe, die wirklich ein gutes Herz hatte. „Soll ich ihm auch einen Rubin bringen?“
„O Gott, ich habe keinen Rubin mehr“, sagte der Prinz, „nur meine Augen sind mir noch geblieben. Sie sind aus seltenen Saphiren gemacht, die vor tausend Jahren aus Indien kamen. Brich ein Auge heraus und bring ihm den Stein.“
„Ach, lieber Prinz, ich kann es nicht tun“, sagte die Schwalbe und begann zu weinen.
„Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe“, sprach der Prinz, „tu das, worum ich dich bitte.“
So nahm die Schwalbe des Prinzen Auge und flog hinweg zur Mansarde des jungen Dichters. Der Jüngling hatte seinen Kopf in den Händen vergraben, so daß er das Flattern der Flügel nicht vernahm; erst als er aufblickte fand er den wundervollen Saphir auf den verwelkten Veilchen.
„Man fängt an, mich zu schätzen“, rief er. „Sicher stammt der Stein von einem meiner Bewunderer! Ich kann das Schauspiel vollenden!“
Am nächsten Tag flog die Schwalbe zum Hafen hinunter. Sie setzte sich auf den Mast eines großen Schiffes und schaute den Seeleuten zu, wie sie mit Seilen schwere Kisten aus dem Laderaum hievten. „Ich gehe nach Ägypten!“, rief die Schwalbe, aber niemand kümmerte sich darum, und als der Mond aufging, kehrte sie zum Glücklichen Prinzen zurück.
„Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen“, rief sie.
„O Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe“, sagte der Prinz, „willst du nicht eine Nacht noch bei mir bleiben?“
„Es ist Winter“, entgegnete die Schwalbe, „in Ägypten steht die Sonne warm über den grünen Palmen, und meine Gefährten bauen schon Nester im Tempel zu Baalbeck.“
„Auf dem Platz zu unseren Füßen“, sprach da der Glückliche Prinz, „steht ein Zündholzmädchen. Sie hat ihre Hölzchen in den Rinnstein fallen lassen und jetzt sind sie verdorben. Ihr Vater wird sie schlagen, wenn sie ohne Geld heimkommt. So brich mir das andere Auge aus, Schwalbe, und gib es ihr, damit sie heimgehen kann und nicht geschlagen wird.“
„Ich bleibe noch diese eine Nacht bei dir“, erwiderte die Schwalbe, „aber ich kann dir das Auge nicht ausbrechen; du wärest ja blind!“
„Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe“, bat der Prinz, „tu das, wie ich dir sage.“
So brach sie auch das andere Auge des Prinzen aus und flog mit ihm zu dem Mädchen. Sie schoß an ihm vorbei und ließ den Edelstein in seine Hand fallen. „Was für ein hübsches Stück Glas!“, rief das Mädchen und lief lachend nach Hause.
Und wieder kehrte die Schwalbe zu dem Prinzen zurück. „Nun bist du blind“, sagte sie. „Nun will ich für immer bei dir bleiben.“
„Nein, kleine Schwalbe“, erwiderte der Prinz, „du mußt jetzt nach Ägypten fliegen.“
„Ich werde immer bei dir bleiben“, sprach die Schwalbe und schlief zu seinen Füßen ein.
Den ganzen folgenden Tag über saß sie auf der Schulter des Prinzen und erzählte von den roten Ibissen, die in langen Reihen an den Ufern des Nils stehen und mit ihren langen Schnäbeln Goldfische fangen. Sie erzählte von der Sphinx, die so alt ist wie die Welt und in der Wüste lebt, und von der grünen, riesigen Schlange, die in der Palme schläft und von zwanzig Priestern mit Honigkuchen gespeist wird.
„Liebste kleine Schwalbe“, sagte der Prinz, „du erzählst mir von unglaublichen Dingen; aber unglaublicher als alles in der Welt sind die Leiden von Männern und Frauen. Das Mysterium der Armut ist das tiefste von allen. Flieg über meine Stadt und sag mir, was du dort siehst.“
So flog denn die Schwalbe über die weite Stadt und sah, wie die Reichen sich vergnügten in ihren Häusern, indes die Bettler vor den Toren saßen. Sie flog in dunkle Gassen und sah die weißen Gesichter hungernder Kinder, die teilnahmslos in die schwarzen Häuserschluchten blickten.
Dann kehrte sie zurück und erzählte dem Prinzen, was sie gesehen hatte.
„Ich bin bedeckt mit glänzendem Gold“, sagte der Prinz, „du mußt es ablösen, Blatt für Blatt, und es den Armen geben.“
Blatt um Blatt des glänzenden Metalls brach die Schwalbe los, bis der Glückliche Prinz nackt und grau war, und Blatt um Blatt trug sie fort zu den Armen. Der Kinder Gesichter wurden rotwangig, und sie lachten beim Spiel in den Straßen und riefen: „Endlich haben wir Brot!“
Dann fiel der erste Schnee und nach dem Schnee kam der erste Frost. Die arme kleine Schwalbe fror und fror immer mehr, aber sie wollte den Prinzen nicht alleine lassen; sie liebte ihn so sehr. Sie pickte ein paar Brotkrümel vor des Bäckers Tür, und schlug mit den Flügeln, um sich zu erwärmen. Aber zuletzt wußte sie doch, daß sie sterben mußte. Sie hatte nur noch einmal die Kraft, auf die Schulter des Prinzen zu fliegen. „Leb wohl geliebter Prinz“, flüsterte sie.
„Ich bin froh, daß du endlich nach Ägypten fliegst, kleine Schwalbe“, sagte der Prinz, „du bist zu lange geblieben, aber küß meine Lippen, denn ich liebe dich!“
„Ich gehe nicht nach Ägypten“, sagte die Schwalbe. „Ich gehe zum Haus des Todes. Der Tod ist der Bruder des Schlafes, nicht?“
Und sie küßte die Lippen des Prinzen und fiel tot zu seinen Füßen nieder.
Im selben Augenblick knackte es seltsam in der Statue, als sei etwas entzweigebrochen. Das bleierne Herz war zersprungen. Ja, es war ein schrecklich strenger Winter!
Früh am nächsten Morgen spazierte der Bürgermeister in Begleitung seiner Ratsherren über den Platz zu Füßen des Glücklichen Prinzen. Als sie an der Statue vorbeikamen, blickte der Bürgermeister empor und sagte: „Du lieber Himmel, ist der Glückliche Prinz armselig geworden!“
„Oh, so armselig, ja!“ riefen sie Ratsherren.
„Und hier liegt doch tatsächlich ein toter Vogel zu seinen Füßen!“ fuhr der Bürgermeister fort.
So zerrten sie denn die Statue des Glücklichen Prinzen von ihrem Sockel. Und bald darauf ließen sie sie in einem Ofen schmelzen.
„Merkwürdig!“ sagte der Vorarbeiter der Gießerei. „Das zerbrochene bleierne Herz will nicht schmelzen. Wir müssen es wegwerfen.“
„Hole mir die zwei wertvollsten Dinge in dieser Stadt“, befahl Gott der Herr einem seiner Engel; und der Engel brachte ihm das bleierne Herz und den toten Vogel.
„Du hast richtig gewählt“, sprach Gott, „denn im Garten meines Paradieses wird dieser kleine Vogel singen immerdar, und der Glückliche Prinz wird mich preisen in meiner goldenen Stadt.“

Oscar Wilde, (1854 - 1900), eigentlich Oscar Fingal O'Flahertie Wills, irischer Lyriker, Dramatiker und Bühnenautor