Einst ging ein Bischof durch die Stadt
Einst ging ein Bischof durch die Stadt.
Ein Bettelbub zu ihm trat,
zog vor ihm ab gar tief den Hut
und sagt: „Herr, seien Sie so gut,
bis an den Hals steck ich in Schulden.
Und schenken Sie mir einen Gulden
Zu diesem lieben Neuenjahr,
das wär ein christlich Werk fürwahr!“
„Was?“, schrie der Bischof eifersvoll.
„Ich glaube, Junge, du bist toll!
Ein Gulden bei so schlechter Zeit
Ist wahrlich keine Kleinigkeit!“
„Nun, Herr“, fiel ihm der Bettler ein,
„so mögen’s denn acht Groschen sein.“
„Nichts, nichts“, versetzt der Bischof drauf,
„geh fort und halte mich nicht auf!“
„Ihr Gnaden, einen Groschne dann.“
„Fort, fort! Auch den nicht.“ –
„Nun wohlan!
Sie sehn, wie ich mich handeln lasse.
Ein Hellerchen?“ – „Geh deiner Straße!
Nichts, gar nichts!“ – „Das ist etwas arg“,
sprach drauf der Bube. „Sie sind karg!
Doch lassen Sie sich dann bewegen
und geben mir nur Ihren Segen?“
„Den sollst du haben, lieber Sohn“,
erwiderte mit süßem Ton
der Geistliche. „Knie hin vor mir,
den besten Segen geb’ ich dir!“
„So?“, sprach der Bursche ganz verwegen.
„Behalten Sie nur Ihren Segen!
Ich hab ihn zu geschwind begehrt.
Wär er nur einen Heller wert.
Sie gäben ihn, hichwürd’ger Herr,
gewiß nicht so gutwillen her.“
Justus Friedrich Wilhelm Zachariae
Liebster Heiland, nahe Dich
1. Liebster Heiland, nahe Dich,
meinen Grund berühre,
und aus allem kräftiglich
mich in Dich einführe,
dass ich Dich inniglich
mög in Liebe fassen,
alles andre lassen.
2. Sammle den zerstreuten Sinn,
treuer Hirt der Seelen,
denn wenn ich in Dir nicht bin,
muss mein Geist sich quälen.
Kreatur ängstet nur;
Du allein kannst geben
Ruhe, Freud und Leben.
3. Mach mich von allem frei,
gründlich abgeschieden,
dass ich eingekehret sei
stets in Deinem Frieden,
kindlich, rein, sanft und klein,
Dich in Unschuld sehe,
in Dir leb und stehe.
4. Was noch flüchtig, sammle Du;
was noch stolz ist, beuge;
was verwirret, bring zur Ruh;
was noch hart, erweiche:
dass in mir nichts hin für
lebe noch erscheine,
als mein Freund alleine.
(Lied, Autor: Gerhard Tersteegen (1697 - 1769))
Rainer Maria Rilke 1875 - 1926 aus: Das Stundenbuch
Ich glaube an alles noch nie Gesagte.
Ich will meine frömmsten Gefühle befrein.
Was noch keiner zu wollen wagte,
wird mir einmal unwillkürlich sein.
Ist das vermessen, mein Gott, vergib.
Aber ich will dir damit nur sagen:
Meine beste Kraft soll sein wie ein Trieb,
so ohne Zürnen und ohne Zagen;
so haben dich ja die Kinder lieb.
Mit diesem Hinfluten, mit diesem Münden
in breiten Armen ins offene Meer,
mit dieser wachsenden Wiederkehr
will ich dich bekennen, will ich dich verkünden
wie keiner vorher.
Und ist das Hoffart, so laß mich hoffärtig sein
für mein Gebet,
das so ernst und allein
vor deiner wolkigen Stirne steht.
Gott spricht zu jedem nur...
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.
&schleck
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Aus: Das Stundenbuch / Buch vom Mönchischen Leben (1899)