Zitat:
Keine Religion ist ein Eiland
Ich spreche als Mitglied einer Gemeinschaft, deren Begründer Abraham ist, und mein Rabbi heißt Moses.
Ich spreche als einer, dem es gelang, die Geburtsstadt Warschau gerade sechs Wochen vor der Katastrophe zu verlassen. Mein Ziel war New York, sonst wäre es Auschwitz oder Treblinka gewesen. Ich bin ein Brandscheit, aus dem Feuer gerissen, in dem mein Volk verbrannte. Ich bin ein Brandscheit, aus dem Feuer auf dem Altar Satans gerissen, auf dem Millionen Menschenleben zur höheren Ehre des Bösen ausgelöscht wurden und auf dem noch so viel mehr vernichtet wurde: das Ebenbild Gottes in so vielen Menschenwesen, der Glaube so vieler Menschen an den Gott der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit und beinahe alles Wissen um die geheimnisvolle Kraft der Bindung an die Bibel, die Heilige Schrift, die fast 2000 Jahre lang in Menschenherzen eingepflanzt und gepflegt wurde.
Ich spreche als ein Mensch, der tief beunruhigt ist und fürchtet, Gott habe sich in Abscheu von uns abgewandt und uns sogar die Fähigkeit genommen, Sein Wort zu verstehen. So vernahm es Jesaja in seiner Vision (6,9-10): "Da sprach ich: 'Hier bin ich, sende mich.' Und Er sprach: 'Geh und sage diesem Volk: Hört immerzu, aber versteht nicht; schaut immerzu, aber erkennt nicht. Mach das Herz dieses Volkes fett und ihre Ohren schwerfällig und schließe ihre Augen, damit sie nicht sehen mit ihren Augen und hören mit ihren Ohren und verstehen mit ihrem Herzen und umkehren und geheilt werden."' ...
Ich spreche als ein Mensch, der überzeugt ist, dass das Schicksal des jüdischen Volkes und das Schicksal der Hebräischen Bibel untrennbar zusammengehören. Dass man uns als Juden anerkennt, dass wir ein Recht haben zu überleben, ist nur in einer Welt möglich, in der der Gott Abrahams verehrt wird.
Der Nationalsozialismus war von Grund auf eine Rebellion gegen die Bibel, gegen den Gott Abrahams. Er erkannte, dass das Christentum die Bindung an den Gott Abrahams und die Beschäftigung mit der Hebräischen Bibel in das Herz des abendländischen Menschen eingepflanzt hatte, und beschloss deshalb, die Juden zu vernichten und das Christentum auszurotten und statt dessen eine Wiederbelebung des germanischen Heidentums herbeizuführen.
Der Nationalsozialismus wurde besiegt; aber der Prozess die Bibel aus dem Bewusstsein der westlichen Welt zu tilgen, schreitet fort. Juden und Christen sind aufgerufen, für diese Aufgabe, nämlich das Gefühl für die Strahlkraft der Hebräischen Bibel in den Herzen der Menschen zu bewahren, zusammenzuarbeiten. ...
Ist das Judentum, ist die Christenheit bereit, diese Herausforderung an zunehmen? Wenn ich vom Gefühl für die Strahlkraft der Bibel im Herzen der Menschen spreche, meine ich nicht, dass dies ein Thema für eine interessante Information ist; vielmehr geht es um Offenheit für Gottes Gegenwart in der Bibel. Es geht um das fortgesetzte Bemühen, um einen Durchbruch im Innern des Menschen, der schwierigen Aufgabe, als Mensch menschlich zu sein, nicht untreu zu werden, ja ein wenig menschlicher zu sein trotz Widerstand und angesichts von Verzweiflung.
Das wichtigste heute ist nicht die Halacha für den Juden oder die Kirche für den Christen — sondern die Voraussetzung, die beiden Religionen zugrunde liegt, nämlich ob es ein pathos gibt, eine göttliche Wirklichkeit, der das Schicksal des Menschen am Herzen liegt und die auf geheimnisvolle Weise auf die Geschichte einwirkt; das wichtigste ist, ob wir für den Anruf und die Erwartung des lebendigen Gottes offen sind oder tot. ...
Die erste und wichtigste Voraussetzung für die Aussprache zwischen Juden und Christen (interfaith) ist die Verwurzelung im eigenen Glauben (faith). Nur aufgrund des tiefen Eingebundenseins in das nicht endende Drama, das mit Abraham begann, können wir einander zum Verständnis unserer Situation helfen. Interfaith muss aus der Tiefe kommen, nicht aus dem Vakuum eines fehlenden Glaubens. Es ist dies kein Unternehmen für geistlich Unreife oder für Menschen, die alles nur halb gelernt haben. Wenn es nicht zu Verwirrung der vielen führen soll, muss es ein Vorrecht weniger bleiben. ...
Ein Christ sollte erkennen, dass eine Welt ohne Israel eine Welt ohne den Gott Israels sein wird. Auf der anderen Seite sollte ein Jude anerkennen, welche herausragende Rolle das Christentum in Gottes Plan zur Erlösung aller Menschen spielt. ...
Ist das Versagen und die Kraftlosigkeit aller Religionen ausschließlich eine Folge menschlicher Sünde — oder vielleicht eine Folge des Geheimnisses, dass Gott Seine Gnade vorenthält, dass Er sich verbirgt, selbst indem Er sich offenbart? Die Enthüllung der Fülle Seiner Herrlichkeit wäre so überwältigend, dass der Mensch es nicht ertragen könnte.
Seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken. Was immer offenbart wird, ist Überfülle für unsere Seele und ein Nichts, verglichen mit Seinen Schätzen. Kein Wort ist Gottes letztes Wort, kein Wort Sein abschließendes.
Nach der Offenbarung am Sinai sprach das Volk zu Mose: "Sprich du zu uns, und wir wollen hören; lass nicht Gott mit uns sprechen, damit wir nicht sterben" (Ex 20,19). Ein Rabbi aus alter Zeit behauptet: Die Tora, wie Mose sie empfing, ist nur eine unreife Frucht am himmlischen Baum der Weisheit. Am Ende der Tage wird vieles offenbart werden, was jetzt verborgen ist. ...
Christentum und Islam sind für Maimonides keineswegs Zufallsprodukte der Geschichte oder rein menschliche Phänomene; sie werden von ihm als Teil von Gottes Plan zur Erlösung der Menschheit betrachtet. Dem Christentum wird eine letzte Bedeutung zugeschrieben durch die Anerkennung, dass "alles, was mit Jesus von Nazareth und Mohammed zusammenhängt dazu dient, den Weg für den König Messias freizumachen". Zusätzlich zu der Rolle dieser Religionen im Erlösungsplan wird ihre Bedeutung in der Geschichte ausdrücklich bestätigt: Durch sie wurden "die messianische Hoffnung, die Tora und die Gebote vertraute Themen ... (unter den Bewohnern) der fernen Inseln und vieler Menschen". An anderer Stelle stellt Maimonides fest, dass "die Christen glauben und bekennen, dass die Tora Gottes Offenbarung ist (Torah min haSchamajim) und Mose in der Gestalt gegeben wurde, in der sie überkommen ist; sie haben sie vollständig niedergeschrieben, obwohl sie sie häufig anders auslegen" [Maimonides, Responsa (Teschuwot), hg. von Jehoschua Blau, Bd. 1, Jerusalem 1957, Nr. 149, 5. 284 (arab. und hebr.)]. ...
Was also ist der Zweck interreligiöser Zusammenarbeit? Weder einander zu schmeicheln noch sich gegenseitig zu widerlegen, sondern einander zu helfen, Einsichten und Lehren zu teilen. ...
Ohne der Thora, kein Judentum; ohne des N.T., kein Christentum; ohne den Koran, kein Islam.