Ergebnis 1 bis 4 von 4
  1. #1
    Josias Gast

    Standard Der Prozess Jesu aus Sicht des Jüdischen Rechts

    Der Prozess Jesu aus Sicht des Jüdischen Rechts


    Inhaltsverzeichnis

    1. Einführung

    2. Die Verhaftung Jesu

    3. Im Hause des Hohepriesters

    4. Thesen zur Aufrechterhaltung der Theorie eines jüdischen Prozesses

    5. Schlusswort


    Vorbemerkung

    Juden haben sich mit der Geschichte Jesu kaum beschäftigt, obschon sie größtes Interesse an ihr haben sollten. Schließlich wurden Juden viele Jahrhunderte um Jesu willen verfolgt. Es gab hierfür vielerlei Gründe, die an dieser Stelle nicht erörtert werden können. Auf einen der Gründe soll hier kurz eingegangen werden. Die Verfolgungen der Juden hatten in der Regel zwei Ausgangspunkte: Es waren einerseits theologische, politische und wirtschaftliche Interessen, die Anlass und Antrieb für die Verfolgungen gaben, wobei diese entsprechend vom kirchlichen, politischen oder wirtschaftlichen Establishment ausgingen. Andererseits spielte das Vorurteil des christlichen Volkes, genährt und flankiert vom erwähnten Establishment, eine entscheidende Rolle bei den einzelnen großen Verfolgungsereignissen (Pogrome etc.), wie auch bei der fortwährenden Diskriminierung der Juden im so genannten Alltagsleben in den christlichen Ländern. Die Kreuzigung Jesu beeinflusste zwar wie kaum ein anderes das Schicksal der Juden in den vergangenen zweitausend Jahren, die gegen sie erhobenen Vorwürfe wurde für sie jedoch kein Gegenstand der Forschung. Und in der Tat, was gab es da zu forschen? Für Juden war der Fall Jesus klar, nicht sie haben ihn gekreuzigt sondern die Römer und auch nicht sie haben die Kreuzigung veranlasst.

    In den letzten Jahrzehnten haben die christlichen Kirchen ihre Einstellung zur Schuld der Juden an dem „Mord“ Christi teilweise zurückgenommen. Das offizielle Christentum ist der ganzen Problematik gegenüber etwas aufgeschlossener. Die Vorurteile der Gläubigen werden aber wahrscheinlich noch lange anhalten; sie werden in den Evangelien gepredigt und sind somit Bestandteil des Glaubens. Diejenigen unter den Christen, für die nicht jedes Wort des Neuen Testaments sakrosankt ist und die neugierig genug sind, geschichtliche Überlieferungen zu überdenken und sie zu hinterfragen, können in der Erforschung, vielmehr in der Lektüre der Forschungsarbeit über den Prozess Jesu, einige wichtige Entdeckungen machen. Es sei hier auch gleich vorweggesagt: selbst wenn die Erkenntnisse der neueren Forschung vieles bisher geglaubte in Frage stellen, den christlichen Glauben können sie weder mindern noch erschüttern; schließlich hat Jesus Liebe gepredigt, Vorurteile und Hass sind für den christlichen Glauben kein Erhaltungs- und Stabilisierungsfaktor.

    In den letzten Jahrzehnten hat sich ein namhafter israelischer Jurist – Richter am Obersten Gerichtshof – mit den Berichten und Erzählungen zum Prozess und zur Kreuzigung Jesus beschäftigt. Als geschulter Jurist hat er sich nicht die Frage gestellt, ob die heute bekannten Informationen stimmen und inwiefern sie stimmen, sondern wie die Ereignisse nach damaligem Jüdischen und Römischen Recht hätten ablaufen müssen und wie sie nicht abgelaufen sein konnten. Seine Analyse erstreckt sich über 500 gedruckte Seiten. Das Buch - Chaim Cohn, Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, 2001, Insel Verlag - wurde im Seminar über Geschichte des Jüdischen Rechts besprochen und eine kurze Zusammenfassung zu den rechtlichen Fragen erstellt. Diese soll dem Interessierten den Einstieg in die komplexe Problematik erleichtern.

    G. Miller


    1. Einführung

    Vor der Betrachtung des Prozesses gegen Jesus vor dem Hohen Rat aus Sicht des jüdischen Rechts ergeben sich Fragen, deren Beantwortung im Vorfeld nötig ist.

    Als erstes stellt sich die Frage

    - ob sich aus den Evangelien ergibt, dass ein Prozess gegen Jesus vor dem Hohen Rat im Hause des Hohenpriesters überhaupt stattgefunden hat, dann ist zu klären

    - inwieweit die Gerichte unter der römischen Besatzung befugt waren, Recht zu sprechen und Urteile zu vollziehen, und es ist die Frage zu beantworten

    - ob sich Kaiphas als Hohenpriester und die Ältesten und Schriftgelehrten auch redlich und gesetzestreu verhalten haben.

    Es soll hier also keine kritische Erörterung des geschichtlichen Wahrheitsgehaltes der Evangelien erfolgen, sondern diese sollen als überlieferte Grundlage der Analyse des Prozesses genommen werden.


    1.1. Die Überlieferung der Evangelien

    Die Evangelien machen unterschiedliche Angaben darüber, was in der Nacht nach der Verhaftung Jesu geschah. Nach Lukas verbrachte Jesus die Nacht mit den Männern, die ihn bewachten; erst am nächsten Tag brachte man ihn vor den Hohen Rat (22, 63, 66). Nach Johannes führte man Jesus in das Haus des Hannas, des Schwiegervaters Kaiphas. Kaiphas war zu dieser Zeit Hohepriester (Joh 18, 13), er übte das Amt von 18 – 36 unserer Zeitrechnung aus. Das Hohepriesteramt war das höchste religiöse und wohl auch nationale Amt, da der Hohepriester die Befehlsgewalt über die einzige, von den Römern erlaubte bewaffnete Truppe, die Tempelpolizei, ausübte. Im Hause Hannas' wird Jesus verhört und später gebunden in das Haus des Kaiphas gebracht. Darüber hinaus geschieht nichts mehr, bis Jesus zum Palast des römischen Prokurators (Statthalter in einer Provinz des römischen Reiches) geschafft wurde (Joh 19-24, 28). Nach Markus (14, 53) und Matthäus (26, 57) stand Jesus indes in jener Nacht im Hause des Hohenpriesters Kaiphas vor dem Hohen Rat.

    Fraglich ist, ob es sich bei der Versammlung im Hause Kaiphas’ um den Hohen Rat, wie es die Evangelisten Markus (Mk 14, 55) und Matthäus (Mt 26, 59) erzählen, also um den Großen Sanhedrin der Hohenpriester, Ältesten und Schriftgelehrten gehandelt hat.

    Sollten sich diese Personen zusammengefunden haben, um einen Prozess gegen Jesus zu führen, ist folgendes zu beachten: die allgemeine Strafgerichtsbarkeit lag in Städten mit mehr als einhundertzwanzig Einwohnern bei dem so genannten Kleinen Sanhedrin. Der Kleine Sanhedrin bestand aus dreiundzwanzig Mitgliedern. Dieses Gericht konnte die Todesstrafe zur Anwendung bringen und hatte daher Verbrechen, die die Todesstrafe androhten, zu beurteilen

    Der Große Sanhedrin der Einundsiebzig wurde als Grundquelle aller, das heißt ziviler, strafrechtlicher, administrativer oder gutachterlicher Gerichtsbarkeit betrachtet; er selbst übte die zivile oder strafrechtliche Gerichtsbarkeit jedoch nur in sehr wenigen, klar umrissenen Fällen aus, etwa dann, wenn ein Strafverfahren gegen einen Hohenpriester eingeleitet werden musste.

    Im Folgenden soll jedoch davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem Hohenpriester und dem ganz Hohen Rat (Mt 26, 59) oder allen Hohenpriestern, Ältesten und Schriftgelehrten (Mk 14, 53; Lk 22, 66) tatsächlich um den Großen Sanhedrin der Einundsiebzig gehandelt hat. In der weiteren Abhandlung werden die Bezeichnungen Hoher Rat und (Großer) Sanhedrin daher synonym verwandt. Ferner wird unterstellt, dass der Hohe Rat Jesus in jener Nacht angeklagt und ihm "den Prozess gemacht" hat. Diese Hypothese erweist sich als notwendig, um die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit dieses "Prozesses" mit den Vorschriften des Prozessrechts zu überprüfen.


    Fortsetzung folgt in kürze!

  2. #2
    Josias Gast

    Standard

    1.2. Reichweite der Befugnisse des Großen Sanhedrin

    Von der Hypothese ausgehend, dass ein Prozess gegen Jesus vor dem Hohen Rat stattgefunden hat, stellt sich nun die Frage, inwieweit der Sanhedrin zur Rechtsprechung und zum Vollzug von Urteilen befugt war.

    Über die Befugnis des Hohen Rates, Kriminalfälle zu verhandeln und die Todesstrafe zu vollstrecken, führen die Gelehrten endlose Auseinandersetzungen. Im Johannesevangelium (18, 31) steht geschrieben, dass die Juden gesagt haben sollen, "wir dürfen niemanden töten". Diese Aussage wurde als hinreichender Beweis dafür verstanden, dass die Römer den Juden jegliche Zuständigkeit für die Kapitalgerichtsbarkeit, zumindest aber die Befugnis zur Vollstreckung ihrer Todesurteile entzogen hatten (vgl. beispielsweise E. Meyer: Ursprung und Anfänge des Christentums, Bd. I, S. 199 zur Kapitalgerichtsbarkeit; J. Blinzler: Der Prozess Jesu, S. 111 zur Befugnis zur Vollstreckung von Todesurteilen).

    Auch unter denjenigen Autoren, die behaupten, der Hohe Rat habe keine Vollmacht zur Vollstreckung der von ihm verhängten Todesstrafe besessen, sind die Meinungen geteilt. So sagt eine Meinung, keine vom Sanhedrin verhängte Strafe sei vollstreckt worden, solange das Verbrechen nicht auch als nach römischem Recht strafbares Verbrechen anerkannt worden war (R. von Mayr: Der Prozess Jesu, in: Archiv für Kriminal–Anthropologie und Kriminalistik 21 [1906]). Andere wiederum beharren darauf, dass man sich zu diesem Zweck römischer Henker bedienen musste, und dass die Vollstreckung der vom Hohen Rat verhängten Strafen in Einklang mit römischen Gesetz und Verfahrensrecht stehen musste (F. Dörr: Der Prozess Jesu in rechtsgeschichtlicher Bedeutung, S. 62).

    Es wird auch eine radikale Ansicht formuliert, nach der der Sanhedrin durch die Römer der gesamten Strafgerichtsbarkeit, zumindest jedoch der Kapitalgerichtsbarkeit, beraubt worden war und lediglich die Befugnis eines untergeordneten Gerichts behalten hatte, dem zum Beispiel die Ausstellung von Haftbefehlen, die Durchführung von Voruntersuchungen und ähnliches oblag (vgl. J. Klausner: Jesus von Nazareth, S. 462).

    Eine weitere vertretene Ansicht besagt, dass der Sanhedrin seine Befugnisse hinsichtlich der Straf- und auch der Kapitalgerichtsbarkeit behalten hat, aber dass der Verurteilte gegen das Urteil des Rates von Rechts wegen Einspruch beim römischen Statthalter als Appellationsgericht einlegen konnte (S. Dubnow: Diwrei J’mei Am Olam, Bd. II, S. 220).

    Weitere Meinungen besagen, dass der Hohe Rat zur Ausübung der Rechtssprechung bei Kapitalverbrechen befugt war, wenn vorher die Zustimmung des römischen Statthalters vorgelegen hat (H. Zucker: Studien zur jüdischen Selbstverwaltung im Altertum, S. 82; J. Lengle: Römisches Strafrecht bei Cicero und den Historikern, S. 51).

    Nach talmudischer Überlieferung wurde Israel die Kapitalgerichtsbarkeit 40 Jahre vor der Zerstörung des Tempels, also im Jahre 30, genommen. Diese Überlieferung findet sich in beiden Versionen des Talmuds (Es existiert eine palästinische und eine babylonische Version des Talmuds. Erstere geht auf das das Jahr 425 zurück, während letztere im 6. Jh. in Babylonien zur Zeit der Diaspora entstand.) Die babylonische Fassung lautet: "Als Rabbi Jischmael ben R. Jose erkrankte, sandten sie an ihn: sage uns doch zwei oder drei Dinge, die du im Namen deines Vaters gesagt hast. Da ließ er ihnen erwidern: …vierzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels wanderte das Synedrium aus und ließ sich in den Kaufhallen nieder" (B Sanhedrin 41b). In der palästinischen Fassung steht folgendes: "Vierzig Jahre vor der Zerstörung des Hauses wurde die Kapitalgerichtsbarkeit hinweg genommen. In den Tagen Schimon ben Schetachs wurde die zivile Gerichtsbarkeit weggenommen. Da sagte Rabbi Schimon bar Jochai: Gelobt sei Gott, denn ich bin nicht weise genug, um zu richten." (J Sanhedrin I, 1).

    Im babylonischen Talmud gibt es jedoch auch eine diesem widersprechende Überlieferung. Dort steht geschrieben, dass die Kapitalgerichtsbarkeit erst ein Ende fand, als der Tempel zerstört war, das heißt im Jahre 70 (B Sanhedrin 52b). Da die Kapitalgerichtsbarkeit gemäß der Bibel innerhalb des Tempelbezirks ausgeübt werden musste ("an dem Ort, den der Herr erwählen wird", Dtn 17, 8), kam die Zerstörung

    des Tempels einer automatischen Aufhebung dieser Form der Gerichtsbarkeit gleich. Gleichzeitig gibt es aber auch im Talmud Hinweise, dass die Kapitalgerichtsbarkeit auch nach der Tempelzerstörung ausgeübt wurde, "nicht etwa, um die Worte der Tora zu überschreiten", sondern weil die Situation es so verlangte (B Sanhedrin 46a). Daraus lässt sich schließen, dass eine freiwillige Aufgabe der Gerichtsbarkeit lange vor der Zerstörung des Tempels in hohem Maße unwahrscheinlich ist.

    Fraglich ist an dieser Stelle, warum sowohl die babylonische als auch die palästinische Überlieferung das Ende der Kapitalgerichtsbarkeit auf das Jahr 30 datieren. Zu vermuten ist, dass die Ursache bzw. Absicht etwas mit diesem Datum zu tun hat. Diese Überlieferung scheint geschaffen worden zu sein, um den Sanhedrin von jeder Verbindung mit der Kreuzigung Jesu zu befreien, die in jenem Jahr stattgefunden haben soll, denn wenn der Hohe Rat vierzig Jahre vor der Tempelzerstörung keine Kapitalgerichtsbarkeit mehr ausübte, sei es aufgrund seiner Verlagerung in Kaufhallen oder weil die Gerichtsbarkeit "aufgehört" hatte, dann konnte er Jesus nicht den Prozess gemacht bzw. ihn gekreuzigt haben.

    Als ein Grund, warum der Sanhedrin seine Kapitalgerichtsbarkeit beendet haben soll, wird genannt, dass die Zahl der Mörder so stark zunahm, dass er nicht mehr imstande gewesen sei, diese Arbeitslast zu bewältigen. Obwohl zu jener Zeit die Gewalt in Judäa zunahm, ist es nicht vorstellbar, dass der Gerichtshof aus diesem Grund seine Rechtsprechungsbefugnisse aufgegeben haben soll, denn damit hätte er der römischen Besatzungsmacht gegenüber zugegeben, dass er seinen Aufgaben und Pflichten nicht gewachsen ist. Im Gegenteil aber musste der Sanhedrin ein vitales Interesse daran gehabt haben, nachzuweisen, dass er alle ihm anvertrauten rechtlichen und administrativen Funktionen gewachsen war und für die Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung innerhalb der jüdischen Bevölkerung sorgte, denn ansonsten bestand die Gefahr, dass die römische Besatzungsmacht die Teilautonomie der Juden hinweg nähme und den Römern auch die Gerichtsbarkeit überlassen worden wäre (vgl. H. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. III, S. 554).

    Nach dem Gesagten steht fest, dass der Sanhedrin in den vierzig Jahren vor der Zerstörung des Tempels tatsächlich die Kapitalgerichtsbarkeit ausübte. Er behielt während dieser Zeit seinen Sitz im Tempelbezirk und ging nicht ins Exil, weder in irgendwelche Kaufhallen oder sonst irgendwo hin.

    Es drängt sich die Frage auf, warum die jüdische Überlieferung davon spricht, dass die Kapitalgerichtsbarkeit um das Jahr 30 aufgehört hat. Es drängt sich geradezu auf, dass dieser Zeitpunkt mit der Kreuzigung Jesu zusammenhängt, die auf jenes Jahr datiert wurde. Vermutlich ist es eine Verteidigung gegenüber den Schuldvorwürfen seitens der Evangelien. Scheinbar reichte es nicht aus, die Darstellungen in den Evangelien als unwahr zurückzuweisen, statt dessen dachte man wohl, eine Überlieferung, die zur Sprache brächte, dass die jüdischen Gerichte zur Zeit der Kreuzigung Jesu gar keine Kapitalgerichtsbarkeit mehr ausübten, könnte ein plausibles und akzeptables Argument zu ihrer Verteidigung darstellen.

    Zusammenfassend ist anzunehmen, dass der Sanhedrin alle jemals nach jüdischem Recht innegehabten Befugnisse hinsichtlich der Behandlung von Kapitalverbrechen behalten hatte. Entsprechend gab es keinerlei Zuständigkeitsprobleme, die hätten verhindern können, dass er Jesus auf jede mit diesem Recht in Einklang stehende Weise den Prozess machte, sofern vom Gesetz her ein Verbrechen vorlag. Es ist mangels historischer Quellen auch nicht nachweisbar, dass dem Sanhedrin seitens der römischen Verwaltung oder durch römisches Gesetz irgendein Teil seiner nach jüdischem Recht ausgeübten Gerichtsbarkeit entzogen worden war (vgl. P. Winter: On the trial of Jesus, S. 10, S. 154; H. Mantel: Studies in the History of the Sanhedrin, S. 254 ff.).

    1.3. Gesetzestreue des Hohenpriesters und der Mitglieder des Großen Sanhedrin

    Nachdem festgestellt ist, dass die Römer der innerjüdischen Gerichtsbarkeit keine Hemmnisse in den Weg gestellt haben und somit auch der Hohe Rat die Kapitalgerichtsbarkeit ausgeübt hat (vgl. oben 1.2. Reichweite der Befugnisse des Großen Sanhedrin), ist noch die Frage zu beantworten, ob sich die Mitglieder

    des Hohen Rates, also der Hohenpriester, die Ältesten und die Schriftgelehrten gesetzestreu verhalten haben oder ob Urteile und Entscheidungen nach Gutdünken oder nach dem eigenen Vorteil gefällt worden sind.

    Verschiedentlich wird die Behauptung aufgestellt, bei den Hohenpriestern, Ältesten und Schriftgelehrten habe es sich um Verbrecher gehandelt, gewohnt und entschlossen, um des Erreichens ihres hässlichen Zieles willen jedes Gesetz zu brechen. (Als solche Ziele kommen in Betracht die Sicherung und der Ausbau der erreichten Machtposition und des Einflusses, die Vermehrung des eigenen Vermögens und ähnliches; jeglicher Widerstand gegen die Erreichung dieser Ziele musste natürlich mit allen Mitteln verhindert werden.) So haben die führenden Priester nach Matthäus (26, 15, 16) Judas skrupellos mit 30 Silberlingen dazu angestiftet, Jesus zu verraten. Wer so etwas tut, der schreckt auch nicht davor zurück, illegale Mittel anzuwenden und das Gesetz zu brechen. Als weiteres Argument für die Verkommenheit der Hohenpriester und Ältesten gelten die Schmähreden Jesu gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (So wandte sich Jesus laut Matthäus (23, 13 – 36) an sie mit den Worten: "Weh euch Gesetzeslehrern und Pharisäern! Ihr Scheinheiligen! […23, 25] Eure Becher und Schüsseln haltet ihr äußerlich rein, aber was ihr daraus esst und trinkt, habt ihr euch in eurer Gier zusammen gestohlen. […23, 28] So seid ihr: Von außen hält man euch für fromm, innerlich aber steckt ihr voller Heuchelei und Schlechtigkeit."). Als weiterer Beleg für die Schlechtigkeit der Hohenpriester gilt ein Bericht des Josephus (F. Josephus: Antiquitates Judaicae, 20, 8.8). In diesem Bericht heißt es: "Schließlich gingen die Hohenpriester in ihrer Dreistigkeit und in ihrem Übermut so weit, dass sie sich nicht scheuten, ihre Knechte auf die Tennen zu schicken und die den Priestern zustehenden Zehnten wegnehmen zu lassen, was zur Folge hatte, dass die ärmeren Priester aus Mangel an Lebensmitteln dem Tode verfielen." Zu beachten ist hierbei jedoch, dass diese Geschehnisse etwa 30 Jahre nach dem Tode Jesu stattfanden, also etwa um das Jahr 60. Zu dieser Zeit hatten sich untere Schichten der Priesterschaft mit den Zeloten (Mitglieder einer stark religiösen, römerfeindlichen Gruppe von Juden, die die römische Besatzung mit Waffengewalt beenden wollten) zusammengetan. Insoweit handelte es sich bei der Wegnahme der Zehnten um eine Beschlagnahme, eine, wenn auch moralisch ungerechtfertigte, polizeiliche Maßnahme der pro-römisch eingestellten Hohenpriester gegenüber den mit den Zeloten sympathisierenden Priestern. Denn der Kampf der Zeloten galt nicht nur den Römern, ebenso wurden auch die mit den Römern zusammen arbeitenden Juden, also auch die Hohenpriester als Gegner angesehen.

    Als weiterer Hinweis auf die angebliche Kriminalität der Hohenpriester gilt ein im Talmud enthaltenes Spottgedicht (T Menachot XIII, 21). Dieses Spottgedicht soll gegen die führenden hohenpriesterlichen Familien gerichtet gewesen sein, die gemeinsam die Nation plünderten und ruinierten. In ihm werden die Knüppel und Fäuste, die Schreibfedern und das Getuschel, mit denen die in ihm genannten Hohenpriester und ihre "Spießgesellen" das Volk behandelten, angesprochen und beklagt. Aufgezeichnet wurde diese Geschichte von Abba Jossei ben Chanan, der um das Jahr 80 lebte, sowie von Abba Schaul ben Botnit, der etwa 20 Jahre davor lehrte. Bemerkenswert ist, dass die erwähnten Hohepriester meistens nach dem Tode Jesu ernannt wurden. Hinzu kommt, dass um das Jahr 60 herum, wie schon bei Josephus angesprochen, die Überheblichkeit und Gewalt der Hohenpriester den Zeloten gegenüber stark zunahm. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Erzähler des Spottgedichtes selbst Zeloten waren, die unter der Verfolgung durch die Hohenpriester zu leiden hatten und das Gedicht dazu nutzten, diese zu diskreditieren und Abneigung und Abscheu im Volke den Hohenpriestern gegenüber zu vergrößern. Das Spottgedicht erlaubt indes auch eine andere Deutung: in ihm werden die Ursachen für die Zerstörung des Tempels und die Niederlage des Aufstands beschrieben. Gerade die Misswirtschaft der Hohenpriester soll den göttlichen Zorn über den Tempel gebracht haben, denn auf das Spottgedicht folgt im Talmud ein Ausspruch, wonach der Tempel zerstört worden sei, weil sie "Geld liebten und einander hassten" (T Menachot XIII, 22).

    Ein weiterer wesentlicher Gesichtspunkt, der bei der Betrachtung der Aufzeichnungen und Berichte aus dieser Zeit zu beachten ist, ist die politische Situation. Judäa war von den Römern besetzt. Diese ernannten die Hohenpriester und setzten sie auch wieder ab. Es war natürlich im ureigenen Interesse der Römer, nur solche Männer zum Hohenpriester zu ernennen, die ihnen freundlich gesinnt und vertrauenswürdig waren. Für die jüdische Bevölkerung hingegen war das Amt des Hohenpriesters das Symbol des Nationalstolzes, jüdischer Rechtsansprüche und des Vorrangs ihrer Religion. Die Einmischung der Besatzungsmacht in das Hohenpriesteramt mussten die Juden als eine enorme Herabsetzung, Erniedrigung und Entwürdigung empfunden haben, schließlich stand dieses Recht nur dem Großen Sanhedrin zu. Daraus lassen sich natürlich auch Schlüsse darauf ziehen, in welchem Ansehen der von den Römern ausgesuchte und ernannte Hohenpriester in der Bevölkerung und folglich auch bei den verschiedenen Autoren stand. Andererseits lässt sich aus diesem Sachverhalt nicht folgern, dass die Hohenpriester Kollaborateure oder Verräter waren. Dafür finden sich keinerlei Beweise. Gerade weil die Grundstimmung der Juden römerfeindlich war und die Zeloten mehr und mehr Zuspruch fanden, hätte es sicherlich Hinweise dafür gegeben, wenn die Hohenpriester, namentlich Kaiphas, für die Römer tätig gewesen wären. Ein Überläufer wäre zutiefst verachtet worden.

    Während es unter den Hohenpriestern und Ältesten viele Sadduzäer (Die Sadduzäer erkannten als bindend lediglich die schriftlichen Gebote der Tora an.) gab, waren die Gelehrten im Sanhedrin Pharisäer (Die Pharisäer "erweiterten" die Tora um die mündlichen Gesetzesüberlieferungen, die Mischna.). Josephus (vgl. F. Josephus: Antiquitates judaicae, 18, 1,3) beschrieb die Pharisäer folgendermaßen: "sie waren arm und strebten nicht nach weltlichem Reichtum, verhielten sich umsichtig und handelten stets aufgrund gewissenhafter Überlegungen und nach bestem Wissen, waren zudem bescheiden und bezeugten ihren Ältesten Respekt; nicht zuletzt waren sie fromm und glaubten, ein barmherziger Gott werde allen guten und gerechten Menschen in einer besseren kommenden Welt die Qualen, die sie auf Erden erlitten hatten, vergelten". Die Pharisäer standen in dem Ruf einer rigorosen Gesetzlichkeit und einer peinlich formalistischen Genauigkeit bei der Beachtung jeder kleinen Einzelheit des Gesetzes. Es besteht kein Anlass anzunehmen, die pharisäischen Vertreter im Hohen Rat seien anders gewesen.

    Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Kaiphas musste in seinem Amt als Hohepriester auf einem schmalen Grat balancieren. Zum einen hatte er die Befehle und Anordnungen der römischen Besatzungsmacht umzusetzen, zum anderen die Belange der jüdischen Bevölkerung zu vertreten. Als ein von Rom vorgeschlagener Kandidat, der letztendlich dem römischen Statthalter verantwortlich war und von diesem abgesetzt werden konnte, war der Hohepriester natürlich bestrebt, die inneren Angelegenheiten der Juden so reibungslos und effizient zu regeln, dass es keinen Anlass für eine römische Intervention gab, das heißt, die Römer mussten ständig überzeugt werden, dass die Verwaltung in sicheren und fähigen Händen lag.

    Da es keine Hinweise für ein gegenteiliges Verhalten gibt, ist anzunehmen, dass Kaiphas die jüdischen nationalen und religiösen Anliegen angemessen vertrat. Gerade deshalb ist aber auch nicht anzunehmen, dass sich Kaiphas von unaufrichtigen oder gar kriminellen Motiven leiten ließ. Und schließlich hat, wobei dies fast unnötig zu sagen ist, auch ein Hohepriester mangels widerlegender Indizien Anspruch auf eine Unschuldsvermutung. Daher ist festzuhalten, dass sich Kaiphas, ebenso wie die übrigen Mitglieder des Hohen Rates, an Recht und Gesetz gehalten hat (vgl. zum gesamten Punkt 1 auch Cohn: Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, S. 53 ff.).

    Fortsetzung folgt in kürze!

  3. #3
    Apokalypse Gast

    Frage Wann?

    wann kommt fortsetzung?

  4. #4
    Isaak Gast

    Standard

    Der User Josias hat diesen Thread am 27.02.2007 gepostet und ist unter selbigen Nick nicht mehr im Gnadenkinder.de registriert.

    Er kopierte aus dem Buch von Chaim Cohn und Interessierte können auf der Internetseite: http://www.juedisches-recht.de/rec_prozess_jesu.php weiterlesen.

    Ich hoffe der User Josias hatte die nötigen Kopierechte von der Goethe Universität eingeholt.

    lehit

    Isaak


 

Ähnliche Themen

  1. Die Evangelien aus neuer Sicht
    Von Pope-Nope im Forum Off-Topic
    Antworten: 2
    Letzter Beitrag: 30.05.2009, 20:26
  2. Die Kreuzigung Jesu aus medizinischer Sicht
    Von Gabriel2 im Forum Predigten, Losungen, Bibelverse, Videos und vieles mehr.
    Antworten: 1
    Letzter Beitrag: 03.04.2007, 20:17
  3. Prozess gegen Gott
    Von Gabriel2 im Forum Predigten, Losungen, Bibelverse, Videos und vieles mehr.
    Antworten: 1
    Letzter Beitrag: 21.03.2007, 17:24
  4. Die Bergrede Jesu - aus jüdischer Sicht interpretiert
    Von Samu im Forum Glaubensfragen / Jesus / Gebete
    Antworten: 20
    Letzter Beitrag: 16.10.2006, 13:29

 Besucher kamen mit folgenden Begriffen auf diese Seite:

Der Prozess Jesu

Jüdisches Recht: Der Prozes gegen Jesus

Jesus

überheblichkeit mischna

jesus aus jüdischer sicht

Stichworte

Lesezeichen

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •