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Thema: Wer bin ich?

  1. #1
    tanuki Gast

    Standard Wer bin ich?

    WER BIN ICH?
    Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
    ich träte aus meiner Zelle
    gelassen und heiter und fest
    wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

    Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
    ich spräche mit meinen Bewachern
    frei und freundlich und klar,
    als hätte ich zu gebieten.

    Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
    ich trüge die Tage des Unglücks
    gleichmütig, lächelnd und stolz,
    wie einer, der Siegen gewohnt ist.

    Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
    Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
    Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
    ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
    hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
    dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
    zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
    umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
    ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
    müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
    matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

    Wer bin ich? Der oder jener?
    Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
    Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
    und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
    Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
    das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

    Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
    Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!


    Dietrich Bonhoeffer, 1945

    Diesen Text las ich gerade - möchte ihn mit euch teilen!

  2. #2

    Standard

    @tanuki
    Jeder der sich mit Bonhoeffer oder der Hitlerei beschaeftigt hat, sollte diesen Text kennen. Deshalb meine Frage: Warum hast Du diesen Text hier eingestellt? Was sind Deine Gedanken oder Motive?
    Gruss Gerd

  3. #3
    Registriert seit
    11.07.2006
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    5.546
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    7

    Standard

    Hallo ihr beiden lieben,

    auch ich kannte den Text von Bonhoeffer und freute mich riesig wieder einmal jede Zeile zu lesen.

    Gerd, ich weiß nicht welche Motive Tanuki hatte oder welche Gedanken ihr kamen und warum sie gerade das von Bonhoefer einstellte.....

    Doch wenn ich diesen Text lese, dann finde ich mich in einigen Teilen darin wieder. Gerade als er beschreibt wie er sich fühlt vor anderen und wie er denkt dass andere ihn wahrnehmen - das ist doch sicherlich oft unser aller Gedanke, oder? Und dann am Schluss dieses Urvertrauen in Gott - wo er schreibt. dass egal wie und wer er auch ist. Gott ihn kennt, das finde ich so fazinierend und damit zeigt mir dieser Mann, dass er Gott kannte und es ihm wichtig war was der Vater über ihn dachte und noch nicht mal wichtig was er über sich selber dachte.

    Danke für diesen Text liebe Tanuki :22

    Eure Fischi

  4. #4
    tanuki Gast

    Standard

    Ihr beiden Lieben,
    warum habe ich diesen Text hier hinein gestellt:
    Ich möchte es mal so erklären, indem ich den Worten des großen evangelischen Theologen Bonhoeffer hier ein Wort der katholischen Mystikerin Theresa von Avila zur Seite stelle - sie sagte "Gott allein genügt"!
    Verwandte von mir befinden sich gerade auf der "Suche" nach einer Glaubensheimat, die Geborgenheit vermittelt usw. Das gab eigentlich den Grund zu meinem Posting, - die Frage "Wer bin ich?" Christ, katholischer Christ, evangelischer Christ, evangelikaler Christ oder soll ich - gerade nach all den Erkenntnissen, die wir so über das Urchristentum und Jeschuah, den jüdischen Rabbiner, gewonnen haben, gar zum Judentum konvertieren. Solche Gedanken können Menschen sehr grundlegend und tiefgehend beschäftigen.
    Deshalb mein Posting - "Wer bin ich?"
    Shalom,
    eure Tanuki

  5. #5

    Standard

    Liebe Tanuki, liebe Fischi,
    natuerlich kann man das Gedicht Bonhoeffers allein unter kuenstlerischen Gesichtpunkten betrachten. Kunst zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, dass sie unabhaengig von Zeitpunkt oder Umstaenden ihrer Entstehung ihre Gueltigkeit hat. Dies trifft zweifellos auf die Verse Bonhoeffers zu. Ich bin aber nicht in der Lage, seine Aussagen unabhaengig von den Umstaenden ihrer Entstehung zu sehen.

    Vor etwa einem Jahr habe ich mir das Buch mit die Sammlung seiner Briefe aus dem Gefaengnis gekauft. Darin enthalten duerfte auch das obige Gedicht sein. Bei mir entwickelte sich diese Lektuere noch kurzer Zeit zu einem literarisches Depressiva. Eben wegen dieser ganz persoenlichen Erfahrung geht es mir um die Motive, einen solchen Text hier einzustellen.
    Gruss Gerd

  6. #6
    tanuki Gast

    Standard

    Lieber Gerhardt,
    ich kann mich deinem Kommentar bezügl. "literarischem Depressivum" anschließen. "Nichts zu sehr" sagte mal ein griech. Philosoph. Das trifft auch auf solche Texte zu. Ich gehe damit sehr sparsam um, denn es tut nicht gut, der eigenen Seele auf diese Weise Leiden zuzufügen. Hin und wieder passt ein Text auf eine bestimmte Situation. Da soll er dann auch Gewicht haben und kann sich unter Umständen sogar als hilfreich erweisen, aber ein Zuviel muss definitiv nicht sein.
    Ich finde es gut, dass du deine persönlichen Empfindungen so beschreibst.
    Liebe Grüße,
    Tanuki


 

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