Hallo Isaak,
ich kenne mich im Judentum fast gar nicht aus, habe vor einigen Wochen eine Führung in der neuen Münchener Synagoge gemacht, das war sehr interessant für mich. Im Christentum kenne ich mich ein bisschen aus, aber ich kann von mir nicht behaupten, dass ich ein überzeugter Christ bin.
Es ist für mich ganz klar, dass Judas kein Scharnier zwischen Christentum und Judentum ist in dem Sinne, dass ein Christ über Judas das Judentum besser verstehen kann oder umgekehrt ein Jude das Christentum. Höchstens Scharnier in dem Sinne, dass Juden und Christen Judas als Mensch und auch jeweils sich selbst besser verstehen können.
Aber Judas, vormals Zelot, vormals fanantischer Jude, dann fanatischer Jünger, hatte eine besondere Vertrauensstellung bei Jesus, ihm wurde das Geld anvertraut. Dann verrät er Jesus (vermutlich aus idealistischen Motiven), danach sieht er seinen Fehler ein, er bereut, gibt die 30 Silberlinge zurück, dann verweifelt er völlig, bekommt offenbar eine schwere Depression, und tötet sich selbst. Es ist eine ungeheuere Tragödie, wie ein Idealist, der nur das Beste möchte, an sich zerbricht. Er findet das kläglichste Ende, dass man sich vorstellen kann, ganz am Rande einer anderen, großen Geschichte.
Und Judas, sein Verrat, sein Zerbrechen, sein klägliches Ende und sein Selbstmord ist, obwohl scheinbar nur am Rande geschehen, ganz und gar notwendig für die große Geschichte der Christen, der Auferstehung und der Apostelgeschichte. Und trotzdem, das ist der Treppenwitz, wird er fortan dämonisiert als das personifizierte Böse, der Jude, der Verräter, der Selbstmörder.
Ich denke machmal, die Christen, die Leute, sind blind, sind verblendet, wenn sie auf Judas sehen. Vielleicht ist hier Selbstschutz im Spiel, denn wer kann denn schon mit der Thematik Wahn, Depression, Selbstmord unbefangen umgehen? Die Christen können das jedenfalls nicht. Die ungeheure Verzweiflung, die Judas, der Idealist hatte, wird von den Christen achselzuckend weggewischt.
Die Hohenprister und Ältesten sagen zu Judas, als er die Silberlinge zurückbringt:
"Was geht uns das an? Das ist Deine Sache!"
Wieder ein Satz in der Bibel, aus dem für mich eine ungeheuere Wahrheit spricht. Die Hohenpriester, die Ältesten, die Juden sagen diesen Satz zu dem verzweifelten Judas, aber in Wahrheit sagen diesen Satz auch seit 2000 Jahren die Christen zu Menschen, die so verzweifelt sind wie Judas es war. Das einzige Rezept, dass die Christen haben, ist der erhobene Zeigefinger: "Verzweifelung ist eine Sünde gegen die Hoffnung". Als ob ein Verzweifelter, der psychisch erkrankt ist, der an Selbstmord denkt, und von denen es hunderttausende allein in Deutschland gibt, überhaupt die Wahl hat, verzweifelt zu sein oder nicht. Dieser Glaubenssatz ist für mich menschenverachtend und ein großer Reibungspunkt am Christentum.
Judas, Jude und Christ, Idealist, Mensch wie Du und ich, durchlitt die tiefsten Tiefen und zerbrach daran. Über Jahrtausende wird er stigmatisiert und in die Hölle geschrieben und gemalt. Und gerade deshalb ist Judas, zwischen den Religionen, zwischen Verrat und Erfüllung, zwischen Ratio und Gefühl, zwischen Glaube und Wahn, zwischen Leben und Tod für mich Identifikationsfigur und Vorbild.
Liebe Grüße,
Picus
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