WENN DER ENGEL FRAGT...

– Wo ist, Sohn, deine Seele? –
„Sie irrt in der Welt, geh such' sie, mein Engel!
Vom Wald eingeschlossen, ein sorgloses Dörflein,
Darüber weit ausgespannt blauender Himmel
Und mitten im Blau eine liebliche Tochter:
Ein zartes zierliches Wölklein.
Um die Mittagzeit spielt dort einsam ein Knabe,
Ein zartes verträumtes, verlassenes Kind,
mein Engel, der Knabe war ich

Und dann war das All in Schweigen gehüllt
Und des Kindes Augen zum Himmel eilten
Und sahen die zarte, so köstliche Reinheit;
Und wie die Taube sich schwingt vom Neste,
So flog zu der lieblichen Wolke die Seele . . "
— Zerfloß die Seele dort oben? —

„Im Weltraum ist eine Sonne, mein Engel!
Ihr erbarmender Goldstrahl errettet die Seele,
Und sie schwebte lange auf Lichtes Flügeln
Wie ein schimmernder Falter;
Und rittlings saß sie auf einem Goldstrahl,
Zwischen Gräsern am Morgen Tauperlen zu suchen,
Und es zittert auf meiner Wange so schuldlos
Und rein eine Träne. Da bebte der Goldstrahl
Und entglitt die Seele und fiel in die Träne . . ."
Und sag'! Versiegte die Träne? —

„O nein: sie fiel auf ein Blatt der Gemara,
Meines Großahns zerknitterte Pergamente,
Darin ruhten zwei Haare des weißen Bartes,
Und Zizithfäden vom Tallithmantel,-
Vom Wachs der Lichter gar viele Male.
Und umringt von der toten Buchstaben Schatten
In dieser Gemara die Seele zittert . . ."
— Und erstickte die zitternde Seele? —

„O nein, sie bebte und sang, mein Engel!
In den toten Zeichen jubelten Lieder,
Und Abgeschiedene wachten zum Leben
In der Lade der alten Bücher des Ahnen.
Und es waren Lieder von klaren Wölkchen,
Vom goldenen Strahl und der blitzenden Träne,
Von Zizithfäden und Kerzenmalen;
Doch ein süßes Lied war fremd diesem Munde —
Das von Jugend und Liebe — und es seufzte die Seele
Gefangen, untröstlich, zu Tode betrübt...---------
Und wieder gedacht ich der alten Gemara —
Und sieh, meine Seele enteilte" . . .

Und immer noch fliegt sie und irrt in der Welt
Und wandert und eilt und findet nicht Trost.
Und in keuschen Nächten am Anfang des Mondes,
Wenn alles betet um Mondes Fülle,
Dann flattert sie sacht um das Tor der Liebe
Und klopft mit leisem Weinen ans Tor
Und betet um Liebe ... .


Aus:
Chaim Nachman Bialik,
Gedichte,
aus dem hebräischen übertragen von Louis Weinberg 1920