Heinz Abels: Individuum oder Gemeinschaft?
Anmerkungen zur Sozialisationskultur in Russland und in Deutschland (Sommeruniversität 2001)
In seinem Bericht über die „Reise zu den Moskowitern“ imJahre 1526 vermerkt der österreichische Diplomat Sigismund zu Herberstein, „das einfache russische Volk“ liebe „die Dienstbarkeit mehr als die Freiheit“ und selbst, wo reiche Leute auf dem Sterbebett ihren Dienstleuten die Freiheit gäben, verkauften sich die Freigelassenen „bald wieder gegen gutes Geld in eine andere Dienstbarkeit.“ (Herberstein, S. 140) Fehlt dem einfachen russischen Volk nun ein Gespür für individuelle Freiheit, oder fehlt dem Westeuropäer das Gespür für das Bedürfnis nach einer Bindung - wie immer sie auch aussehen mag? Immerhin hat Herberstein, dessen Berichte das Bild von Russland in Westeuropa wesentlich bestimmt haben, auch etwas zweites, scheinbar Absonderliches gehört: Diener beklagen sich, wenn der Herr sie nicht regelmäßig schlage, denn sie hielten das für ein Zeichen von Ungnade. (Herberstein, S. 153) Also noch einmal: statt Freiheit - was immer sie auch sein mag - lieber die regelmäßige soziale Zuwendung, wie sie enger (und auch schmerzhafter!) nicht sein kann!
Fast fünfhundert Jahre später sinnieren Soziologen und Politiker darüber, warum soziale und ökonomische Reformen in Russland unter Putin so schwer in Gang kommen. Und wieder wird eine Erklärung geliefert, die wenig mit dem Gedanken von Individualität und Freiheit, viel aber mit Massenbewusstsein und sozialer Gewohnheit zu tun hat: der russische Mensch lasse sich nicht gern als Einzelner in die Pflicht für die Zukunft nehmen, sondern gehe lieber als Teil eines „wir“ die vertrauten Wege, auf denen auch alle anderen seit je gehen. Der russische Soziologe Boris Dubin spricht von einem Mangel an „sozialer Differenzierung“ und einer „Armut an gesellschaftlichen Beziehungen“. (zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.3.2001) Bei dieser Erklärung scheint natürlich das Bild der Moderne auf, die ihren scheinbaren Siegeszug eben dieser sozialen Differenzierung und den damit gebotenen gesellschaftlichen, d. h. sachlichen und zweckrationalen Beziehungen verdankt.
Ich will nun den Blick von dieser russischen „Mangelhypothese“ weglenken und die Frage stellen, ob nicht umgekehrt ein westlicher Mangel - der an gemeinschaftlichen Beziehungen – mindestens ebenso zu bedenken wäre. Eine Antwort versuche ich dadurch zu geben, dass ich die Sozialisationskulturen in Russland und in Deutschland vergleiche. Ich möchte zeigen, warum in Russland der Gedanke der Individualität und in Deutschland der Gedanke der Gemeinschaft zu kurz kommen.
1. Genügsamkeit, Opferung und die Verhinderung von Individualität
Der Blick auf den Menschen in Russland war jahrzehntelang durch zwei Theorien bestimmt: Nach der Totalitarismustheorie war der einzelne total unterdrückt, isoliert und machtlos; nach der „revisionistischen“ Geschichtsschreibung ging es nicht um das einzelne Individuum, sondern um kollektive Subjekte. Der Historiker Jochen Hellbeck hat nun russische Tagebücher, Memoiren und Autobiographien aus dem 19. und 20. Jahrhundert aus Russland bzw. der Sowjetunion ausgewertet und kommt zu einem anderen Urteil. Er bezweifelt eine Dichotomie von Öffentlichem und Privatem in Russland. Für die Schreiber in der Zeit der Sowjetunion könne man sogar sagen, dass sie ihr Selbst genau dadurch zum Ausdruck brachten, indem sie es mit dem Kollektiv zu verschmelzen suchten. (zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.1.2001)
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Nachdem sich die Russen von fast 200 Jahre währender Mongolenherrschaft befreien konnten und sich die Moskauer Rus im 13. und 14. Jh. herausbildete, entwickelte sich eine ökonomische Praxis, die man als „geschlossene Hauswirtschaft“ (domaschni) bezeichnet. Ein weiteres Kennzeichen dieser ökonomischen Praxis ist ihr „gemeinschaftlicher“ (obschtschina) Charakter.
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Das soziale Prinzip der obschtschina war also nicht das einer Gesellschaft, sondern das einer Gemeinschaft. Die Gesellschaft ist nach dem Prinzip der Sachlichkeit, der überindividuellen Funktionalität und generalisierter Verhaltenserwartungen organisiert. Die Gemeinschaft hingegen lebt von einer gefühlsmäßigen Verbundenheit zwischen Personen, die sich als Teil eines größeren Ganzen und damit als Repräsentanten einer kollektiven Identität verstehen. Ihr Verhältnis zueinander ist von Zuneigung und Vertrauen in die Gesamtheit der Person geprägt.
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Deshalb stand auch Reichtum an sich nicht in hohem Ansehen. „Wesentlich höher im Kurs stand die Ruhmestat“. (Boronoev und Smirnov 1998, S. 83) Reichtum war nur insofern von Wert, als man ihn freigebig bei Festen und Gelegen verschwendete. Der Reichtum, den sich die Großbauern, die Kulaken, erwarben, indem sie für einen Markt produzierten, galt als unmoralisch. Sie hatten sich nämlich aus der obschtschina gelöst, die Gemeinschaft also aufgegeben, und arbeiteten nach rationalen, marktwirtschaftlichen Prinzipien, vor allem aber als Individuen. Wer das aber tat, konnte kein guter Mensch sein! Etwas von der Verachtung individueller Anstrengung hat sich bis heute erhalten. Umgekehrt hat die kommunistische Ideologie nahtlos an dieses kollektivistische Denken anschließen können. Ja, man kann sogar sagen, dass die obschtschina durch diese Ideologie eine Aufwertung bekommen hat, die einerseits den Traum der Gleichheit und inneren Verbundenheit mit einer Gemeinschaft wahr werden ließ, die andererseits aber den Zwang zur Individualität, wie sie im Westen gefordert wurde, für dekadent und das Prinzip Gesellschaft für falsch erklärte.
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