10 – Der Himmel brennt

Mit vollem Magen rollten wir zum Auto. Bewegungslos schauten wir aus dem Fenster, bis wir das giganti-sche Symbol des Stadions in Charlotte sahen. Ein Basketball und ein Schläger bildeten den Abschluss einer hohen Säule. Das Gelände begann mit einem großen Parkplatzkomplex. Mehrere Lotsen in ihren leuchten-den Warnwesten wiesen uns den Weg. Unser Fahrer stoppte erst, als er den Eingang sah. Er parkte den Truck in eine kleine Lücke auf der Rasenfläche. Das sieht man dort nicht so verbissen. In Deutschland wäre ich sicher, dass ein Knöllchen unter dem Scheibenwischer kleben würde. Ich war froh, dass ich wenigstens noch ein paar Meter laufen konnte. Barry hatte Eintrittskarten über das Internet gebucht und die Bestätigung ausgedruckt. Die Einlasser lasen den Strichkode und wir durften hinein.

Es war ordentlich was los. Wir waren wirklich nicht die Einzigen. Es wimmelte wie im Bienenstock. Unendlich viele Menschen rannten hin und her. Es waren viele kleine Stände aufgebaut. Es gab Basecaps, Flaggen, Schmuck und vieles mehr. Geradeaus konnte man das ganze Stadion überblicken. Nun konnten wir die Band sehen, deren laute Bässe wir schon von weitem gehört hatten. Ihre Musik konnte man sich gut anhö-ren, was auch viele taten. Die Ränge des Stadions waren gut besetzt. Aber wir hatten ja Sitzplätze. Die A-merikaner orientierten sich kurz und steuerten dann nach links. Überall war viel zu beobachten, und uns trieb nichts. Langsam und ohne Interesse schlenderten wir an einigen Burger-Restaurants vorbei. Aus jeder Klap-pe roch es anders, aber: Wenn die Maus satt ist, schmeckt das Mehl bitter. Als wir unseren Block mit unse-ren Platznummern gefunden hatten, schauten wir Erwachsenen uns an. Einstimmig abgelehnt. Keiner von uns hatte Lust sich dort brav in die Reihe zu setzten. So genossen wir es hier an der frischen Luft, auf dem Balkon entlang zu spazieren. Am Ende des Weges hatten wir einen genialen Überblick über alles und, wir beobachteten das Treiben.

Chases Begeisterung hielt sich in Grenzen. Er hat ein wahres Talent, seine Ge-sichtausdrücke völlig entgleisen zu lassen. Mit seiner leidenden Miene erreichte er oft, was er wollte. Er ent-deckte, dass die viele Kinder auf den Rasenanlagen spielten. Sie hatten alle leuchtende orangefarbene Fris-beescheiben, die es irgendwo als Werbegeschenk gab. Seine Augen funkelten, als wir uns in diese Richtung bewegten. Unter den Sitzbänken türmte sich ein ganzer Stapel dieser Frisbeescheiben unbewacht. Carrie schlich sich von hinten heran und nahm sich einen davon für ihren Sohn.
Zwischen den vielen Decken war auch noch ein freies Plätzchen für uns.

Barry erfüllte sofort seine Vateraufgaben und opferte sich als Spielgefährte, bis er von einem der anderen Kinder abgewählt wurde. Wir beiden Frauen ließen uns genüsslich ins Gras fallen. Ich weiß nicht, wer von uns zuerst die Schuhe auszog. Wir lagen auf dem Rücken und streckten alle Viere von uns. Am blauen Himmel begann der erste Stern zu leuchten. Der gleiche, der auch über Deutschland strahlt; der gleiche, unter dem meine Beiden zu Hause zu dieser Zeit schliefen.

Diese Veranstaltung hatte ein Radiosender anlässlich des 200. Jahrestags der Unabhängigkeitserklärung der USA organisiert. So war es auch für mich ein kleiner Unabhängigkeitstag. Ich hatte es wirklich geschafft, ganz alleine dort zu sein. Das war schon toll.

Die Jungs der Gruppe „Third Day“ sorgten für Gänsehaut am ganzen Körper. Die Massen klatschten und sprangen und wankten nach der Melodie. Allerdings war hier keiner angetrunken, es gab keinen Alkohol. Die Schirmherrschaft hatte die Kirche.

Es wurde langsam dunkler, und ein dicker Knaller kündigte den Beginn des Feuerwerks an. Die ersten Ra-keten starteten. Es ist zu schön: Du hörst dieses leise Zischen, während ein kleiner, winziger leuchtender Punkt, langsam am Himmel hinauf steigt; wie die Aufnahme einer Sternschnuppe, die zurückgespult wird. Die Spannung steigt. Welche Farbe wird es sein, welche Form und welche Größe. Die Rakete leuchtet auf und jedes Mal hast du dieses „Ahhh“ auf der Zunge. Wenn du es nicht heraus lässt, tut es dein Nachbar. Ich genieße diesen Moment.

Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich an meine Erlebnisse beim Raketenstart denke. In der Silvester-nacht ließ ich schon oft voller Stolz die Zündschnur brennen. Die eigene, teure Rakete schoss aus der lee-ren Sektflasche heraus. Auch mit dem Zischen klappte es noch ganz gut. Dann allerdings war der Spaß schon fast vorbei, denn mit den Lichtern klappte es oft nicht. Es reichte gerade Mal für ein „Ohhh“.

Das Basketballstadion war hell erleuchtet, der Himmel stand in Flammen. Eine Rakete folgte der nächsten; Jede war heller als die davor; Jede war größer als die zuvor. Das kann man nicht beschreiben, ich konnte es nur genießen. Es war so, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte.
Morgens tapste ich als erster durch die Stube. Ich setzte in der Küche zwei Tassen Kaffee auf. Ich schnapp-te meinen Laptop und verschwand nach draußen. Es dauerte nicht lange, da fanden sich dort alle ein, um ihren Kaffee zu schlürfen.

Es war Sonntag. Es wurden die Glocken geläutet. Wir machten uns fertig, damit wir gemeinsam zur Kirche gehen konnten. Ich freute mich schon darauf, und so verschwand ich in meinem Zimmer. Carrie hatte doch etwas länger mit ihren Haaren zu tun. Da rannte die Zeit schneller als geplant. Wir stiegen ins Auto, und sie raste wie im Film. Die Reifen quietschten in der Kurve. Ich als Beifahrer hielt mich ängstlich fest und schaute skeptisch zu Carrie herüber. Sie lachte schelmisch und kaute wild auf ihrem Kaugummi.

An der Kirche verschwand Andrew gleich in einen anderen Eingang. Die Kindergruppe in der Chase erwartet wurde, war eine Treppe höher. Die Mutter öffnete die Tür und schob ihn freundlich herein. Wir beide gingen den langen Gang entlang. Ein Ehepaar mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm stand auf dem Flur, Carrie begrüßte sie und nahm ihnen das Kind ab. Als die Zimmertür sich schloss, begann dieses kleine Wesen ordentlich Krach zu machen. Alle Versuche sie zu trösten, waren vergebens, es nützte nichts. Die dicke Träne kullerte an ihrer Wange herunter. Als eine weitere Stimme ins Zimmer kam, wurde wieder ein Lächeln in ihr Gesicht gezaubert. Carrie begann an der Schrankwand bunte Plakate zu befestigen. Farben lernen stand auf dem Programm. Mit großen Buchstaben waren die Namen der Farben aufgeschrieben und auf jedem war eine passende Gurke drauf.

Im Anschluss gingen wir zum Gottesdienst in den großen Saal der Kirche. Es war erstaunlich. Inzwischen kannte ich schon eine ganze Reihe von Leuten. Auch Jake begrüßte mich freundlich. Wir nahmen wieder an der gleichen Stelle Platz, wie vor einem halben Jahr. Chase und Andrew warteten auf uns. Das Programm begann mit dem Chor. Nach den Texten auf dem Bildschirm sangen wir kräftig mit.

Hinter einer großen Scheibe konnte man eine große Taufwanne sehen. Dort wurden an diesem Tag mehre-re neue Mitglieder in diese Baptistengemeinde aufgenommen. Es waren einige Kinder, aber auch ein paar Erwachsene. Ich fragte Carrie, ob es so auch bei Jana war. Sie bestätigte es mir leise. Zufrieden stand ich neben Carrie. So dicht, dass ich sie ab und zu berührte.
Als alle nach unten schauten, um zu beten, fühlte ich mich alleine. Ich schaute zu meiner Freundin und ver-spürte den Wunsch meine Hand auf ihre zu legen. Ich tat es nicht, denn es war ihre Zeit. Es war, als wenn ich ihre Gedanken lesen konnte; ihre Sorgen um ihre Familie und ihre Wünsche. Wenige Minuten später schenkte sie mir wieder ein Lächeln.

Der nächste Pastor stand sprachlos hinter dem Rednerpult. Langsam suchte er nach Worten, doch es ge-lang ihm kaum zu sprechen. Er holte sein Taschentuch aus der Hosentasche, um seine Tränen zu trocknen. Freude und Leid liegen nah beieinander auch in dieser Kirche. Sie lebt durch die Menschen; mit den Men-schen und für die Menschen. Um einen von ihnen ging es, es war der junge Pfarrer Jim. Hilfreich tauchte ein weiter Mann am Mikrofon auf. Er begann den Abschied zu erklären. Seit fast dreizehn Jahren war in dieser Kirche der Pastor Jim mit ganzer Freude des Herzens tätig. Nun folgte er dem Willen Gottes, um an einem anderen Ort zu helfen.

Die Stimmung im Raum war beeindruckend. Ich hatte diesen netten jungen Mann erlebt, ich hörte seine Predigt, ich verstand ihn gut. Auch ich hatte ihm die Hand geschüttelt. Wie erst mussten sich all diese Bap-tisten und auch Carrie fühlen? Sicher verband sie mit ihm unendlich viele Erinnerungen, sicher hatte er viele ihrer schönen und schlechten Erlebnisse des Lebens mit ihnen geteilt. Diese Traurigkeit verteilte sich in die-sem großen Raum und jeder der Menschen saugte einen Teil davon auf, bis sie verschwand. Gemeinsam beteten sie für ihn und wünschten ihm viel Glück für seinen neuen Weg.
Auch ich klatschte laut, als Jim mit Schwung auf die Bühne sprang. Als er das Mikrofon in der Hand hielt, war es ruhig: Ich hätte eine Stecknadel auf den Boden fallen gehört. Er bedankte sich für das Privileg, in dieser Kirche als Pfarrer arbeiten zu dürfen und für die freundliche und selbstlose Art der Leute. Auch er kämpfte mit den Tränen und er bat: „ Bitte hören Sie nicht auf für uns zu beten.“