Aufblühen und ausreifen

Ein Sonnenblumenkern sollte mit vielen anderen in die Ecke gesenkt werden. Das wollte er aber nicht. Er entwischte der Hausfrau in einem günstigen Moment und versteckte sich unter einem Schrank. „Man darf nicht immer über sich verfügen lassen“, sagte der Kern und fristete nun ein recht unruhiges Leben unter dem Schrank. Im Kampf um sein Leben – er war ja immer auf der Flucht vor Besen und Putzlappen, wenn diese unter den Schrank fuhren – hatte er manche Not zu bestehen. Aber was tat´s, er war dabei doch sein eigener Herr. Bis zum herbstlichen Hausputz! Da wurde er entdeckt und als wertloser Kern auf den Abfallhaufen am Gartenzaun geworfen.
„Man hat mich in meinem Wert völlig verkannt“, sagte der Sonnenblumenkern zu den welken Rosenblättern auf dem Komposthaufen. „Ich gehöre nicht hierher: ich habe wertvolle Öle in mir!“ –
Da neigte sich eine große, goldgelbe Blütensonne zu ihm herab. „Wer bist du?“ schrie der kleine Kern; ganz hingerissen von so viel Schönheit. „Eine Sonnenblume! Ich wurde als Samenkorn vor Monaten in die Erde gelegt.“ –
Ich will auch in die Erde“, rief der Kern. „ich will auch!“ „Zu spät! Die Saatzeit ist vorbei und Dein leben vertrocknet“, sagte die Sonnenblume und wandte Ihr schönes Blumengesicht mit der reifenden Frucht darin dem Licht zu.

Axel Kühner aus dem Buch „Überlebensgeschichten für jeden Tag“

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