Der Prozess Jesu aus Sicht des Jüdischen Rechts


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Die Verhaftung Jesu

3. Im Hause des Hohepriesters

4. Thesen zur Aufrechterhaltung der Theorie eines jüdischen Prozesses

5. Schlusswort


Vorbemerkung

Juden haben sich mit der Geschichte Jesu kaum beschäftigt, obschon sie größtes Interesse an ihr haben sollten. Schließlich wurden Juden viele Jahrhunderte um Jesu willen verfolgt. Es gab hierfür vielerlei Gründe, die an dieser Stelle nicht erörtert werden können. Auf einen der Gründe soll hier kurz eingegangen werden. Die Verfolgungen der Juden hatten in der Regel zwei Ausgangspunkte: Es waren einerseits theologische, politische und wirtschaftliche Interessen, die Anlass und Antrieb für die Verfolgungen gaben, wobei diese entsprechend vom kirchlichen, politischen oder wirtschaftlichen Establishment ausgingen. Andererseits spielte das Vorurteil des christlichen Volkes, genährt und flankiert vom erwähnten Establishment, eine entscheidende Rolle bei den einzelnen großen Verfolgungsereignissen (Pogrome etc.), wie auch bei der fortwährenden Diskriminierung der Juden im so genannten Alltagsleben in den christlichen Ländern. Die Kreuzigung Jesu beeinflusste zwar wie kaum ein anderes das Schicksal der Juden in den vergangenen zweitausend Jahren, die gegen sie erhobenen Vorwürfe wurde für sie jedoch kein Gegenstand der Forschung. Und in der Tat, was gab es da zu forschen? Für Juden war der Fall Jesus klar, nicht sie haben ihn gekreuzigt sondern die Römer und auch nicht sie haben die Kreuzigung veranlasst.

In den letzten Jahrzehnten haben die christlichen Kirchen ihre Einstellung zur Schuld der Juden an dem „Mord“ Christi teilweise zurückgenommen. Das offizielle Christentum ist der ganzen Problematik gegenüber etwas aufgeschlossener. Die Vorurteile der Gläubigen werden aber wahrscheinlich noch lange anhalten; sie werden in den Evangelien gepredigt und sind somit Bestandteil des Glaubens. Diejenigen unter den Christen, für die nicht jedes Wort des Neuen Testaments sakrosankt ist und die neugierig genug sind, geschichtliche Überlieferungen zu überdenken und sie zu hinterfragen, können in der Erforschung, vielmehr in der Lektüre der Forschungsarbeit über den Prozess Jesu, einige wichtige Entdeckungen machen. Es sei hier auch gleich vorweggesagt: selbst wenn die Erkenntnisse der neueren Forschung vieles bisher geglaubte in Frage stellen, den christlichen Glauben können sie weder mindern noch erschüttern; schließlich hat Jesus Liebe gepredigt, Vorurteile und Hass sind für den christlichen Glauben kein Erhaltungs- und Stabilisierungsfaktor.

In den letzten Jahrzehnten hat sich ein namhafter israelischer Jurist – Richter am Obersten Gerichtshof – mit den Berichten und Erzählungen zum Prozess und zur Kreuzigung Jesus beschäftigt. Als geschulter Jurist hat er sich nicht die Frage gestellt, ob die heute bekannten Informationen stimmen und inwiefern sie stimmen, sondern wie die Ereignisse nach damaligem Jüdischen und Römischen Recht hätten ablaufen müssen und wie sie nicht abgelaufen sein konnten. Seine Analyse erstreckt sich über 500 gedruckte Seiten. Das Buch - Chaim Cohn, Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, 2001, Insel Verlag - wurde im Seminar über Geschichte des Jüdischen Rechts besprochen und eine kurze Zusammenfassung zu den rechtlichen Fragen erstellt. Diese soll dem Interessierten den Einstieg in die komplexe Problematik erleichtern.

G. Miller


1. Einführung

Vor der Betrachtung des Prozesses gegen Jesus vor dem Hohen Rat aus Sicht des jüdischen Rechts ergeben sich Fragen, deren Beantwortung im Vorfeld nötig ist.

Als erstes stellt sich die Frage

- ob sich aus den Evangelien ergibt, dass ein Prozess gegen Jesus vor dem Hohen Rat im Hause des Hohenpriesters überhaupt stattgefunden hat, dann ist zu klären

- inwieweit die Gerichte unter der römischen Besatzung befugt waren, Recht zu sprechen und Urteile zu vollziehen, und es ist die Frage zu beantworten

- ob sich Kaiphas als Hohenpriester und die Ältesten und Schriftgelehrten auch redlich und gesetzestreu verhalten haben.

Es soll hier also keine kritische Erörterung des geschichtlichen Wahrheitsgehaltes der Evangelien erfolgen, sondern diese sollen als überlieferte Grundlage der Analyse des Prozesses genommen werden.


1.1. Die Überlieferung der Evangelien

Die Evangelien machen unterschiedliche Angaben darüber, was in der Nacht nach der Verhaftung Jesu geschah. Nach Lukas verbrachte Jesus die Nacht mit den Männern, die ihn bewachten; erst am nächsten Tag brachte man ihn vor den Hohen Rat (22, 63, 66). Nach Johannes führte man Jesus in das Haus des Hannas, des Schwiegervaters Kaiphas. Kaiphas war zu dieser Zeit Hohepriester (Joh 18, 13), er übte das Amt von 18 – 36 unserer Zeitrechnung aus. Das Hohepriesteramt war das höchste religiöse und wohl auch nationale Amt, da der Hohepriester die Befehlsgewalt über die einzige, von den Römern erlaubte bewaffnete Truppe, die Tempelpolizei, ausübte. Im Hause Hannas' wird Jesus verhört und später gebunden in das Haus des Kaiphas gebracht. Darüber hinaus geschieht nichts mehr, bis Jesus zum Palast des römischen Prokurators (Statthalter in einer Provinz des römischen Reiches) geschafft wurde (Joh 19-24, 28). Nach Markus (14, 53) und Matthäus (26, 57) stand Jesus indes in jener Nacht im Hause des Hohenpriesters Kaiphas vor dem Hohen Rat.

Fraglich ist, ob es sich bei der Versammlung im Hause Kaiphas’ um den Hohen Rat, wie es die Evangelisten Markus (Mk 14, 55) und Matthäus (Mt 26, 59) erzählen, also um den Großen Sanhedrin der Hohenpriester, Ältesten und Schriftgelehrten gehandelt hat.

Sollten sich diese Personen zusammengefunden haben, um einen Prozess gegen Jesus zu führen, ist folgendes zu beachten: die allgemeine Strafgerichtsbarkeit lag in Städten mit mehr als einhundertzwanzig Einwohnern bei dem so genannten Kleinen Sanhedrin. Der Kleine Sanhedrin bestand aus dreiundzwanzig Mitgliedern. Dieses Gericht konnte die Todesstrafe zur Anwendung bringen und hatte daher Verbrechen, die die Todesstrafe androhten, zu beurteilen

Der Große Sanhedrin der Einundsiebzig wurde als Grundquelle aller, das heißt ziviler, strafrechtlicher, administrativer oder gutachterlicher Gerichtsbarkeit betrachtet; er selbst übte die zivile oder strafrechtliche Gerichtsbarkeit jedoch nur in sehr wenigen, klar umrissenen Fällen aus, etwa dann, wenn ein Strafverfahren gegen einen Hohenpriester eingeleitet werden musste.

Im Folgenden soll jedoch davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem Hohenpriester und dem ganz Hohen Rat (Mt 26, 59) oder allen Hohenpriestern, Ältesten und Schriftgelehrten (Mk 14, 53; Lk 22, 66) tatsächlich um den Großen Sanhedrin der Einundsiebzig gehandelt hat. In der weiteren Abhandlung werden die Bezeichnungen Hoher Rat und (Großer) Sanhedrin daher synonym verwandt. Ferner wird unterstellt, dass der Hohe Rat Jesus in jener Nacht angeklagt und ihm "den Prozess gemacht" hat. Diese Hypothese erweist sich als notwendig, um die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit dieses "Prozesses" mit den Vorschriften des Prozessrechts zu überprüfen.


Fortsetzung folgt in kürze!