@Zeuge
Die substantielle Einheit von der Eckhart spricht ist die transzendente Einheit des Göttlichen in sich selbst (und damit das genaue Gegenteil von Einheit des „Fleisches“), die wir uns aber nur als fortlaufenden Wechsel im ursprünglichen und kürzesten Entstehen und Vergehen weltlicher Strukturen im Einen vorstellen können, so dass hier Einheit und Dualität ineinander fallen. Eckharts Gott ist ein Schöpfergott, ein lebendiger Gott, der die Welt nicht in einem absoluten Raum zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen hat, sondern der sie immer noch ohne Unterlass schafft. Gott ist zeitlos, er ist nicht wie wir in der Zeit, kennt keine Vergangenheit, keine Zukunft, keinen linearen Ablauf von Ereignissen, so wie wir sie erfahren und Leben, Existenz, Sein, Realität nennen, sondern sein Schaffen, sein Gebären von Welt ist zugleich sein Innebleiben und sein Innebleiben ist sein Ausgebären. Er bleibt immer das Eine, das in sich selber quillt.
In der Predigt „Was ist Gott“ drückt es Eckhart folgendermaßen aus:
Was Wesen hat, Zeit oder Raum, das gehört nicht zu Gott, er ist über dasselbe; was er in allen Kreaturen ist, das ist er doch darüber; was da in vielen Dingen eins ist, das muss notwendig über den Dingen sein. Einige Meister wollten, die Seele wäre allein im Herzen. Dem ist nicht so, und darin haben große Meister geirrt. Die Seele ist ebenso gut ganz und ungeteilt im Fuß und im Auge. Nehme ich ein Stück von der Zeit, so ist es weder der Tag heute noch der Tag gestern. Nehme ich aber ein Nu, das begreift alle Zeit in sich. Das Nu, worin Gott die Welt machte, ist dieser Zeit ebenso nahe, wie das Nu, worin ich eben spreche, und der jüngste Tag ist diesem Nu so nahe wie der Tag gestern war.
Sankt Bernhard sagt: Gott lieben, das ist weise ohne Weise. Kein Ding kann über sein Wesen wirken. Gott aber wirkt über Wesen in der Weite, wo er sich rühren kann, er wirkt in Unwesen Wesen; ehe ein Wesen war, wirkte Gott. Grosse Meister sagen, Gott sei ein absolutes Wesen; er ist hoch über Wesen, wie der oberste Engel über einer Mücke. Und ich sage, es ist ebenso unrecht, Gott ein Wesen zu heißen, als ob ich die Sonne bleich oder schwarz hieße. Gott ist weder dies noch das. Wenn einer wähnt, er habe Gott erkannt – wenn er etwas erkannt hat, so hat er etwas erkannt und hat also nicht Gott erkannt.
In Gott sind aller Dinge Bilder gleich; aber sie sind ungleich dem Bild der Dinge. Der höchste Engel und die Seele und die Mücke haben ein gleiches Bild in Gott. Gott ist nicht Wesen noch Güte.
Wenn wir Gott im Wesen nehmen, so nehmen wir ihn in seiner Vorburg; denn Wesen ist seine Vorburg, worin er wohnt. Wo ist er denn in seinem Tempel? Dies ist die Vernünftigkeit, wo er heilig erglänzt, wie der andere Meister sagte, dass Gott eine Vernunft ist, die in ihrer Erkenntnis allein lebt und in sich selbst allein bleibt, und da hat ihn nie etwas berührt, denn er ist da allein in seiner Stille. Gott in seiner Selbsterkenntnis erkennt sich selbst in sich selbst.
Die göttliche Realität hat nach Meister Eckhart ein einheitliches überseiendes Sein jenseits des getrennten Seins der Welt in Zeit und Raum, zu dem wir selbst gehören und doch ist Gott gleichzeitig ganz und ungeteilt in allem weltlichen Sein substantiell als „lebens-, seinsschaffendes Prinzip“, als dessen Urgrund enthalten, welchen wir dann vermöge unseres Erkenntnisapparates als voneinander getrenntes Sein in Raum und Zeit erkennen.
Der Mensch hat nach Eckhart also eine (für unsere Vorstellung) paradoxe Stellung. In der als materiell erkannten Welt unserer alltäglichen Erfahrung und Vorstellung, erlebt er sich selbst als ein, von allem, getrenntes Sein, mit einem Icherleben, einem Anfang und einem Ende. Gleichzeitig (über die Vorstellung hinaus, jenseits unserer Erkenntnisstrukturen, im Glauben) ist er aber immer und zeitlos, über des sich als getrennt erlebenden Ichs hinaus, die transzendente Einheit des Göttlichen selbst. Wir sind alle Kinder Gottes und leben unser Leben in der mehr oder minder starken Einsicht in die substantielle Verbundenheit mit ihm, dem Einen.
Jesus hatte wohl eine besonders ausgeprägte Einsicht in diese Einheit jenseits unserer Erkenntnis. Jedenfalls lässt sich das komplette 14. Kapitel des Johannesevangeliums so interpretieren, ohne dabei irgendetwas aus dem Zusammenhang reißen zu wollen.
Und ich will den Vater bitten, und er soll euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch bleibe ewiglich: den Geist der Wahrheit, welchen die Welt nicht kann empfangen; denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr aber kennet ihn; denn er bleibt bei euch und wird in euch sein. Ich will euch nicht Waisen lassen; ich komme zu euch. Es ist noch um ein kleines, so wird mich die Welt nicht mehr sehen; ihr aber sollt mich sehen; denn ich lebe, und ihr sollt auch leben. An dem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch. Wer meine Gebote hat und hält sie, der ist es, der mich liebt. Wer mich aber liebt, der wird von meinem Vater geliebt werden, und ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren.
Spricht zu ihm Judas, nicht der Ischariot: HERR, was ist's, dass du dich uns willst offenbaren und nicht der Welt? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen. Wer mich aber nicht liebt, der hält meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein, sondern des Vaters, der mich gesandt hat. Solches habe ich zu euch geredet, solange ich bei euch gewesen bin. Aber der Tröster, der Heilige Geist, welchen mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch erinnern alles des, das ich euch gesagt habe. (Johannes 14, 16-25)
Jesus spricht hier im Bewusstseins seines bevorstehenden Todes zu seinen Jüngern. Wahrscheinlich war die Stimmung unter ihnen eher von Traurigkeit und vielleicht auch Angst geprägt, aber Jesus versucht seine Jünger zu trösten, indem er ihnen verständlich macht, dass der Tod, die substantielle Einheit in Gott nicht zu entzweien vermag. Diese Einheit (Jesus nennt sie hier den Geist der Wahrheit – den Heiligen Geist) mag die Welt nicht sehen, nicht erkennen können (genau wie Eckhart auch meint – er erklärt das nur genauer), aber sie bleibt nach Jesu Aussage in uns und wird in uns sein (über den Tod hinaus und auch über den Tod Jesu hinaus). Das Gebot von dem Jesus spricht ist das Gebot der Liebe, das ganz natürlich aus der Erkenntnis der substantiellen Einheit heraus erwächst und in unserem Leben erblühen soll, was es immer auch kann, weil es sich mit der Wurzel der Liebe in Einheit verbunden weiß. Liebe erwächst nicht dort, wo sie mir geboten wird und ich mich entsprechend bemühe oder versuche zu lieben, sondern sie wächst und gedeiht überall dort, wo sie sich in Einheit verbunden weiß. Und philosophisch betrachtet spricht Jesus und Eckhart immer von genau dieser Liebe, die die transzendente Liebe des Göttlichen in sich selbst ist und in unserem Erkennen als Welt in Raum und Zeit ausfließt, in sich zurück fließt und in sich selber quillt (entsprechend der Dreieinigkeit Gottes).
Nicht zuletzt wegen dem von Dir genannten Vers aus Kolosser 2 wird die Philosophie unter Gläubigen aber leider eher gering geachtet. Man wähnt, man brauche sie nicht, weil man ja etwas viel besseres habe, nämlich die Bibel. Aber die Bibel ist schlussendlich ein philosophischer Text, die Frage nach Gott ist untrennbar mit der Philosophie verbunden und wenn man die Philosophie von ihrer Grundbedeutung aus betrachtet, als Liebe zur Weisheit, dann beschreibt sie die Fähigkeit des Menschen in Selbstdistanz Perspektivwechsel vornehmen zu können und dadurch zur Empathie zu gelangen. Eckhart war dessen fähig und hat sie reichlich in seinem Leben praktiziert. Er wollte kein Lehrmeister sein, sondern ein Lebemeister. Und auch wenn ich persönlich davon überzeugt bin, dass wir von seiner Lehre und negativen Theologie noch vieles lernen könnten, so bin ich gleichzeitig doch noch viel mehr dem Leben zugetan, das sich in Einheit mit Gott verbunden weiß und aus dieser Verbundenheit heraus liebt.
LG
Provisorium
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