Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zu kam, als er eines Tages in unser Haus kam. Es sollte nur für ein paar Tage sein, dass er als Gast mit uns im Alltag lebte.
Nasir, ein Teenager mit autistischen Zügen, stellte alles, was wir bis dahin unter Alltag verstanden, ungewollt , ungeplant und doch speziell auf die Probe.
Es begann beim ersten gemeinsamen Essen.
Nasir setzte sich hungrig an den großen Holztisch gemeinsam mit den 3 anderen Teenagern und unserer Jüngsten. Ich blickte in seine Augen und seine Finger tänzelten nervös auf dem Tellerrand entlang. "Ich habe nur Rindfleisch in den Hackbällchen." erklärte ich und sah einen Funken Erleichterung in seinen Augen. Nasirs Mutter hatte zwar nicht speziell erwähnt, ob sie in der muslimischen Religion lebten, und viel zu große andere Sorgen im Herzen um an alles zu denken, aber als ich am Nachmittag im Supermarkt gestanden war, hatte ich es vorsorglich eingeplant.
Nasir griff zur Gabel, doch irgendetwas schien ihm dennoch Sorge zu machen.
"Soll das heißen, wir essen jetzt alle nur noch dieses Fleisch, weil Nasir Moslem ist?" In diesem Moment , mit dieser Frage, brach am Tisch Unruhe aus, die ich so nicht eingeplant hatte.
Eine Welle von Fragen und sich zuspitzenden Bemerkungen brach über den Esstisch. Nicht, dass diese Teenager eigentlich Probleme mit anderen Religionen oder Abstammungen je gehabt hätten, in ihrem Freundeskreis gab es eine bunte Vielfalt und dennoch bisher nie Streit darüber, wer welcher Religion abstammte. So hatte ich überhaupt nicht damit gerechnet, was in den folgenden Tagen sprichwörtlich alles über unseren Esstisch flog.
Nasir wollte, seiner Religion folgend, kein Schweinefleisch essen, doch Sebastian wollte nicht darauf verzichten- also kochte ich ohnehin getrennt. Felix wollte, warum auch immer, plötzlich Vegetarier werden- ich postierte zu jeder Mahlzeit einen Salat in Griffnähe seines Platzes. Thomas nutzte die Gelegenheit, um zu verkünden, er würde dem Buddismus sein Interesse schenken und mochte sowieso nur "weißes Fleisch", also Hühnchen.
Ich weiß nicht, was eigentlich in den Köpfen vor sich ging, aber aus Respekt vor dem Wunsch jedes Einzelnen und um die plötzlichen Gesinnungswandel und Religionsunterschiede sichtbar zu tolerieren, plante ich für jede gemeinsame Mahlzeit eben doppelt so viel Zeit zur Vorbereitung ein und hoffte auf Frieden am Tisch.
Doch das sollte trotz aller Mühe dauern.
Kaum hatte ich die Nahrungswünsche berücksichtig, begannen neue Diskussionen-
Nazir bestand darauf, dass er kontrollieren dürfe, ob ich wirklich schon beim Zubereiten und Aufstellen am Tisch selbst die Töpfe, Kellen und Messer getrennt vom Schweinefleisch hielt und bald darauf verschob er den "Schweinefleisch- topf" möglichst weit an die entfernteste Stelle vom Esstisch.
Felix verweigerte das Frühstücksei und war damit beschäftigt, bei jeder Gelegenheit den Anderen zu zeigen, wie daraus hätte ein süßes Kücken werden können und selbst die Wurst wurde markiert-" rot mit Schwein und gelb ohne".
Die Gabel des Vegetariers durfte nicht mal in der Nähe des Fleisches liegen, das Schweinefleisch getrennt weit weg vom Rind und wenn es, weil ich des Diskutierens müde wurde, nur weißes Fleisch gab, machte sich Nasir dennoch Sorgen, ob ich Pflanzenöl zum Braten verwendet hatte.
Der Esstisch wurde beinahe zum Kampfplatz. Man verschob und rückte, diskutierte dabei welches Essen "rein", "gesund" oder "überhaupt etwas war" und ich fühlte mich wie ein hilfloser Zuschauer dieses Theaters am eigenen Tisch.
Ich hatte keine Ahnung, wie, aber ich wünschte mir plötzlich nur noch, diesen Hitzköpfen irgendwie klar zu machen, dass Toleranz und Respekt wichtig, aber nicht ein solch skuriles Bild annehmen und gar zu Streit führen dürfe. Jeder hatte doch seinen Bereich, seinen Teller, seinen Glauben, durfte es haben- aber warum um alles in der Welt musste deshalb die gesamte Tischordnung nun auch noch ausgerichtet werden?
So vieles stand auf dem Tisch und reichte es nicht, wenn sich jeder nehmen konnte, was er mochte?
Doch mir fehlte die Idee.
Einige Tage verbrachte ich so sehr viel Zeit in der Küche und dachte darüber nach- Toleranz und Religion das schlug mir langsam auf den Magen.
Nadine, unsere 3 jährige verstand die Unruhe am Esstisch ebenso wenig, das las ich aus ihren Augen.
Und doch war sie es, die eines Tages Auslöser für Friedensverhandlungen wurde. Sie setzte sich auf ihren Kinderstuhl, legte die Handflächen geöffnet links und rechts von sich und begann, immer und immer wieder mitten in der hitzigen Diskussion um Fleischbällchen und Hühnereier, mit lauter werdender Stimme zu summen "Piep, piep, piep wir ham uns alle lieb". Der kleine Dickkopf gab sich nicht von der Lautstärke der tiefen Teenagerstimmen geschlagen, sondern schrie schließlich mit tiefrotem Kopf in die Menge "piep machen!"
Plötzlich war es still. Ein Lachen brach jede Diskussion. Wir reichten uns die Hände und dann erklang es im Chor "piep, piep, piep- wir haben uns alle lieb- guten Appetit".
Es war der Tag, an dem plötzlich Frieden einkehrte. Nicht dass irgendwer am Tisch seine religiöse Überzeugung hätte dafür aufgeben müssen, und doch lernten wir- der Tisch ist für alle da, nur was sich warum jeder auf seinen Teller legte, war seine persönliche Entscheidung.
auch wenn ich die Namen verändert habe, war dies eine wahre Lektion für uns. Es ist ok, wenn der eine oder andere beim Lesen gelacht hat, man muss nicht alles bitterernst nehmen.
Vielleicht hilft es aber auch hier bei der nächsten, hitzigen Diskussion ein wenig?
piep, piep, piep...
;-) lg bonnie
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