Huhu aio,

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aio
Ich meine, hier wird sehr deutlich davon gesprochen, welche Sorge die rechte Sorge ist und welche Sorgen nachrangig sind oder gar unnütz. Ich habe schon viel über dieses Gleichnis nachgedacht, denn ich muß euch gestehen, daß ich in meinem Leben noch keinen einzigen Menschen (Familie, Gruppe, ...) getroffen hätte, wo sich diese Verheißung und Zusage bewahrheitet hätte.
Wie kann das sein, nach 2000 jähriger Tradition?
Eigentlich wollte ich ja schon längst mal einen Thread zum Thema "geistige Armut" eröffnet haben, aber ich komm' irgendwie dann doch nie dazu. :-(
Aber deine Fragen geben mir nun zumindest die Möglichkeit, dass Thema "geistige Armut" kurz anzusprechen, denn in dem Gleichnis von den Lilien geht es exakt darum.
Weißt du, der Mensch hat ja in seinem Leben und Alltag immer eine ganz bestimmte Blickrichtung, er verfolgt also ganz bestimmte Ziele und sein Streben und Trachten folgt einer ganz bestimmten Motivation. Meist ist das in heutiger Zeit, ich denke das kann man mit einigem Recht sagen, das liebe Geld, generell Besitz und damit verbunden dann auch der Konsum.
Ganz offensichtlich war das wohl auch schon zu Jesu Zeiten gar nicht so viel anders. Die Menschen sind tagein tagaus damit beschäftigt den schnöden Mammon zu verdienen und fragen sich dann, was sie mit der Kohle anfangen sollen, also z.B. was sie an Kleidung tragen und was sie essen und trinken sollen (die "Essensfrage" ist z.B. eine der Standardfragen meiner Kindheit und Jugend gewesen, denn meine Mutter stellte sie täglich:-)).
Die Blickrichtung des Menschen geht also in dem eben skizzierten Fall in Richtung der Alltagssorgen. Man will ordentlich essen und trinken, insgesamt gut versorgt sein und dann vielleicht noch bisschen seine Eitelkeit pflegen, indem man sich darüber Gedanken macht, was man für Klamotten tragen könnte. Tatsächlich ist das so ein typisches Verhalten, dass man es wirklich überall beobachten kann. Jesus nennt dieses Verhalten, dass Verhalten der Kleingläubigen und Heiden, man könnte also sagen, dass es das "Standardverhalten des Menschen" ist, die "Standardausrichtung" des Menschen, bei der der Blick auf die zweckgebundenen Mittel geht, mit denen man die Ziele des Alltags verfolgt.
"Geistige Armut" richtet den Menschen nun anders aus und damit steht auch in Verbindung, was Jesus mit dem Reich Gottes meinte, nach welchem man zuerst trachten soll. Net.krel hatte in seinem Post ja gemeint, dass es in Lukas 17,21 heißen würde, dass das Reich Gottes inwendig in uns wäre. Das ist zwar nicht wirklich falsch, aber das ist lediglich eine Alternativübersetzung und bibelwissenschaftlich korrekter ist die Übersetzung: "Siehe das Reich Gottes ist mitten unter euch".
Jesus macht also mit diesem Vers weniger darauf aufmerksam, dass Gott in der Seele des Menschen anwesend ist (was ja schon stimmt), als vielmehr bewusst, dass das Reich Gottes bereits ausgebreitet da ist, man es also nicht erst noch als von irgendwoher kommend betrachten sollte.
Die Unterscheidung ist mir persönlich insofern wichtig, da bei der Vorstellung, Gottes Reich wäre im Menschen, sehr schnell der Eindruck erweckt werden könnte, dass die Welt um uns herum, nicht in dem Maße zu Gottes Reich gehören würde, wie die innere Welt. Und tatsächlich gibt es sehr viele Beispiele dafür, wie im christlichen Glauben (und nicht nur dort), die Außenwelt (und übrigens auch der Körper) als etwas Geringes, etwas Übles, vor dem man besser fliehen sollte, betrachtet wurde.
Jesus lehrte meiner Meinung nach aber nie eine Weltflucht, oder eine ganz bestimmte Form von Innerlichkeit, sondern vielmehr das dem Nächsten und Gegenüber Zugewandtsein und die Identifikation des Nächsten mit Gott, insofern man all das, was man seinem Nächsten tut, Gott tut (Matthäus 25,40).
Das Innen und Außen des Menschen wird also nicht gegeneinander ausgespielt, so als wäre entweder das Innen oder das Außen wertvoller oder wichtiger, sondern das Eine bedingt das Andere und drückt sich in ihm aus. "Geistige Armut" kennt nun auch einen ganz ähnlichen Prozess, den man verkürzt und unvollständig wohl so darstellen könnte, dass in dem Maße, wie der Mensch von allem Eigenen lässt, in demselben Maße Gott in den Menschen eingeht.
Mit "dem Eigenen des Menschen" ist all das gemeint, was der Mensch als seine Eigenschaft, als sein ihm eigensten Besitz begreift. Also wenn man z.B. sagt, dass eine ganz bestimmte Sache nur deshalb so gut ausgegangen ist, weil man selbst, aufgrund seiner ganz persönlichen Eigenschaften, so gut gehandelt habe, dann spricht man sich selbst Gutheit, das Gutsein zu, eben so als wäre Gutsein und Gutheit eine persönliche Eigenschaft, die man besitzen und über die man verfügen könnte.
"Geistige Armut" und das zu Grunde liegende "Gedankengebäude" dazu, sagt aber, dass der Mensch keine eigene Gutheit besitzt, sondern dass er nur insofern gut sein und gut handeln kann, insofern ihm Gott (verstanden als Gott der Gute) das Gute zukommen lässt. Das Gute das man tut, tut man also quasi gar nicht selbst und aus sich heraus, sondern man tut es, weil Gott das Gute zuerst ermöglicht hat und wir dies lediglich zulassen und im Guten wandeln (siehe auch Epheser 2,10).
Das klingt nun erst einmal sehr theoretisch, hat aber ganz praktische Auswirkungen auf die Perspektive und das Selbstverständnis, aus der heraus der Mensch handelt und sein Sein verstehen kann. Die Perspektive des Menschen ist ja für gewöhnlich die Perspektive eines sich sorgenden Menschens, der überlegt was er essen und trinken, was er für Klamotten tragen soll. Er ist also mit seinen Gedanken immer ein bisschen in der Zukunft, oder auch in der Vergangenheit, weil ihm z.B. die Sorgen vergangener Tage immer noch stark präsent sind, aber er ist meistens gar nicht richtig im Moment, im Augenblick, im Nun und Jetzt zuhause.
Besonders auch in der heutigen, sehr schnelllebigen Zeit klagen ja viele Menschen darüber, dass sie beständig irgendeinen Stress haben, beständig irgendetwas ansteht, erledigt werden will und Termindruck herrscht. Viele Menschen leiden entsprechend auch sehr darunter und gar nicht so selten werden sie sogar krank, es kommt zum Burn-Out, oder sie haben Depressionen, oder es zeigen sich körperliche Symptome aufgrund beständiger Überforderung und weil man immer und in jedem Augenblick funktionieren muss.
Tatsächlich ist es doch sehr häufig so, dass wir in ein System eingebunden sind, dass uns massiv antreibt und in dem von uns erwartet wird, dass wir Leistung bringen. Deshalb nennt man solch eine Gesellschaft ja auch Leistungsgesellschaft. "Geistige Armut" ist nun quasi ein "Gegenentwurf" zur heutigen Leistungsgesellschaft, denn die Grundsätze der "geistigen Armut" sind eben nicht leistungsbezogen, sondern ganz im Gegenteil, man braucht gar nichts leisten. Es soll zu einem "nicht Wissen", "nicht Wollen" und "nicht Haben" kommen, was sich aber nicht durch besondere Leistung erreichen lässt, sondern was ganz einfach geschieht, wenn man sich denn dafür öffnet.
Es ist nun in diesem Rahmen gar nicht notwendig, dass großartig weiter auszuführen, aber ich will dann jetzt doch noch konkret auf deine Anmerkungen, unter dem Gesichtspunkt der "geistigen Armut" eingehen.

Zitat von
aio
Tatsache scheint doch zu sein, daß sich nicht nur die 'Heiden' zu allererst um ihre Existenz sorgen, sondern auch in der Regel alle Christen. Wer keine Arbeit findet, um für sich und seine Familie Sorge zu tragen und diese zu ernähren (wovon sollen wir leben, was sollen wir essen, womit sollen wir uns kleiden, etc.), der landet in der Regel auf der Strasse.
Ich finde, daß gerade dieses Gleichnis jene Kluft offenbart, die scheinbar existiert, zwischen Theorie und Praxis, Anspruch und Realität. Was mich verblüfft, daß ist die Tatsache, wie diese Differenzen immer wieder relativiert werden, wo doch dieses Gleichnis sehr klar und eindeutig aussagt, daß wir uns um all diese existentielle Anforderungen nicht zu sorgen brauchen.
Die Kluft von der du sprichst besteht tatsächlich immer dann, wenn man davon ausgeht, dass Jesus in diesem Gleichnis unsere körperlichen und existentiellen Bedürfnisse, als im absoluten Sinne "nicht der Sorge wert" betrachten würde. Das würde dann bedeuten, dass sich der Mensch in dieser Welt um rein gar nichts mehr sorgen müsse, also auch nicht um seine Ernährung und um der Witterung entsprechend angemessener Kleidung. Das kann aber schon allein deshalb nicht sein, weil wir ja ganz klar essen, trinken und uns kleiden müssen, damit wir überhaupt leben und überleben können.
Und wie bereits oben erwähnt, lehrt Jesus, meiner Meinung nach, ja auch nie eine Weltflucht, oder einen radikalen Asketismus, in dessen Praxis man sich selbst dem Essen und Trinken enthalten und beständig fasten und sich in "Sack und Asche" kleiden müsse. Aber er lehrt "das Reich Gottes" und das dieses Reich bereits mitten unter uns ist, also ausgebreitet da ist, weshalb sich die Frage stellt, was das mit einem selbst zu tun hat, also inwiefern ich Teil bin, oder Anteil habe an diesem Reich Gottes?
Jesus beantwortet nun diese Frage und um dieses Anteilhaben zu verdeutlichen, nutzt Jesus dann die Vögel und Lilien als veranschaulichende Sprachbilder, indem er sagt:
Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch.
...und...
Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eins. (1. Könige 10.1) So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr euch tun, o ihr Kleingläubigen?
Anteil am Reich Gottes hat der Mensch demnach also nicht durch seine Leistung, nicht durch das, was er als seine Eigenschaften definiert und vermöge dessen er z.B. gut handelt und daraus resultierend sich dann das Reich Gottes verdienen könnte, sondern man hat vielmehr dadurch Anteil an dem Reich Gottes, dass man ganz einfach ist, eben dadurch, dass Gott dem Menschen Sein geschenkt hat, wie er auch den Vögeln und den Lilien auf dem Feld Sein geschenkt hat. Das, was Gott ins Sein setzt, das muss sich also insofern keine Sorgen um seine Existenz machen, weil es immer schon im göttlichen Sein gehalten ist, immer schon verbunden ist mit dem göttlichen Sein. Jedoch das, was den Menschen sorgt, ist seine weltliche Existenz, seine geschaffene Kreatürlichkeit, die selbstverständlich sehr bald schon vergehen würde, würde der Mensch nicht essen und nicht trinken und sich nicht dem Wetter entsprechend kleiden.
Jesus will also mit dem Gleichnis unsere Perspektive ausrichten und darauf aufmerksam machen, aus welchem Blickwinkel heraus man auf sein Leben schauen sollte. Und da ist dann ganz klar gesagt, dass wir zuvorderst nicht um unsere weltliche Existenz besorgt sein sollen, oder besser, nicht besorgt sein müssen, weil wir über unsere weltliche Existenz hinaus, immer schon substantiell Anteil am Reich Gottes haben, das weder Essen, noch Trinken, noch unangemessene Kleidung kennt.
Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass Jesus sehr wohl bewusst war, dass der Mensch essen, trinken und sich auch kleiden muss, weshalb er mit seinem Gleichnis nun nicht die Empfehlung aussprechen möchte, fortan ziel- und planlos durch den Alltag zu gehen, weil Gott sich schon irgendwie darum kümmern wird, dass der Mensch nicht verhungert, oder verdurstet, oder erfriert. Die Bedürfnisse des Menschen, hinsichtlich seiner weltlichen und kreatürlichen Existenz, sind Jesus also völlig klar und ebenso ist ihm auch bewusst, dass der Mensch hier auf Erden Sorge tragen muss, weil er eben z.B. Geld verdienen muss, eine Familie zu versorgen hat, oder eben auch ganz einfach dafür verantwortlich ist, dass sein Körper nicht krank wird, weshalb es natürlich eine absolut notwendige Voraussetzung ist, dass er isst und trinkt und sich auch darum kümmert, also sorgt, dass er immer essen und trinken kann.
Jesus geht es aber in diesem Gleichnis (und übrigens auch noch in ganz vielen anderen Gleichnissen ebenso) um einen Perspektivwechsel, weg von unsrem weltlichen und kreatürlichen Sein, hin zu unserem "übernatürlichen, göttlichen Sein". Als Prediger, der das Reich Gottes verkündigt, geht es ihm eben immer um das göttliche Reich, sozusagen die Perspektive Gottes. Und hinsichtlich dieser Perspektive sind Sorgen und Nöte über die Frage danach, was man essen und trinken soll, oder wie man sich kleiden soll, völlig unnötig und obsolet.
Im Grunde sagt Jesus also in diesem Gleichnis, dass man, wenn man nach dem Reich Gottes trachtet, das heißt, wenn einem bewusst wird und es somit Teil unseres Blickwinkels auf das Leben ist, dass das Reich Gottes mitten unter uns ist, dass es da ist und ich daran Anteil habe, alle weltlichen Sorgen vergessen kann. Er sagt quasi:
"Alles ist gut und du hast es nur noch nicht gemerkt, du lebst noch nicht im Bewusstsein dafür, dass alles gut ist und das liegt unter anderem daran, weil du viel zu sehr mit weltlichen Sorgen und Nöten beschäftigt bist, viel zu sehr an deiner Kreatürlichkeit hängst und an all dem, was mit deiner Kreatürlichkeit verbunden ist. Wechsle die Perspektive, aus der heraus du auf das Leben, auf dein Leben blickst, trachte also nach dem Reich Gottes und dir wird bewusst werden, dass du gar nichts leisten brauchst (wie es hier in der Welt aber immer und ganz grundsätzlich gefordert ist), dass alle Sorge unnötig ist, weil, dass Reich Gottes ist mitten unter euch und auch du hast Anteil daran - alles ist gut!"
Es ist nun einmal so, dass wir Menschen hier auf Erden beständig in Sorge sind. Wir müssen Verantwortung übernehmen, müssen Leistung erbringen, müssen uns täglich um tausend Dinge kümmern, ja, wir müssen beständig funktionieren und das erwartet man auch von uns und man erwartet es auch von sich selbst (und wir erwarten es übrigens auch von anderen!). Solange das noch gut funktioniert und man den Erwartungen der Gesellschaft gemäß und den eigenen Maßstäben entsprechend gut funktioniert, ist weitestgehend alles in Butter, auch wenn uns der damit verbundene Stress und Leistungsdruck häufig unglücklich macht und wir durchaus merken, dass das nicht auf ewig so weiter gehen kann und auch immer wieder Sehnsucht nach einem anderen, einfacheren und vielleicht glücklicheren Leben entsteht.
Aber wenn wir mal nicht mehr so gut funktionieren, wenn man vielleicht krank wird und alles was man tut, nur mit größter Mühe und Anstrengung getan werden kann, dann wird es in unserem Leben dunkel und vielleicht fühlt man sich nicht nur unglücklich, sondern sogar nutzlos und überflüssig, wovon ganz besonders stark ältere und alte Menschen betroffen sind und darunter leiden; dann besteht also die ganz große Gefahr, dass man depressiv und verbittert wird und das Leben ganz einfach überhaupt keinen Sinn mehr macht, weil der Sinn des Lebens für einen immer mit der eigenen Leistungsfähigkeit verbunden war.
Jesus sagt dazu nun quasi "Moment mal, Stopp, eure weltlichen Sorgen und Nöte und auch das damit verbundene Selbstbild, ist doch nur eine Seite der Medaille und es ist dazu auch noch die ohnehin vergängliche, quasi nur vorübergehende Seite. Hängt euer Herz nicht an diese Seite, quält euch nicht mit dieser Seite unnötig herum, sondern seit gewiss: das Reich Gottes ist mitten unter euch und ihr habt Anteil daran. Trachtet nach diesem Reich und macht euch bewusst, wer ihr eigentlich seit (nämlich Söhne und Töchter Gottes) und denkt nicht soviel darüber nach, was ihr tun sollt, oder wer ihr hier auf Erden sein wollt. Werdet geistig arm, denn selig sind die geistig Armen (Matthäus 5,3) und ihr sollt und werdet selig sein, sobald ihr von einem Wissen in ein Nichtwissen und von einem Wollen in ein Nichtwollen und von einem Haben in ein Nichthaben kommt, das heißt, sobald ihr die weltlichen Fesseln lasst, die euren Geist an eure Kreatürlichkeit binden und euch alles nur aus der Perspektive der weltlichen Notwendigkeiten heraus betrachten lassen. Diese Fesseln gibt es eigentlich gar nicht und ihr legt sie euch nur selber an, oder lasst sie euch anlegen - ich aber sage euch, alles ist gut!"
LG
Provisorium
Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt und empfängt er dich, nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzt bist. (Meister Eckhart)
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