Hallo Provisorium,

Zitat Zitat von Provisorium
Ah, interessant, da muss ich mal kurz nachhaken. Kannst du mir bitte sagen, was du unter "griechischer Philosophie" verstehst? Also von welcher Schule du da konkret ausgehst und der du einen starren Dualismus attestierst? Mich interessiert dies besonders auch deshalb, weil ich in der letzten Zeit im Internet immer wieder Predigten und christliche Vorträge gehört habe, in denen, meist in einem kurzen Nebensatz, eher geringschätzend von "der griechischen Philosophie", oder auch "dem griechischen Denken" gesprochen wird. Leider erfährt man aber nie, was konkret damit gemeint ist und weshalb man die griechische Philosophie als problematisch betrachtet.
grundlegend für das "griechische Denken" und damit auch grundlegend für das Denken der späteren Kirche ist die Philosophie Platons gewesen. Platon ging von zwei Welten aus, einer fleischlich-materiellen, die man sehen kann, und einer geistlichen, die unsichtbar existiert. Er attestierte der geistlichen Welt den weit höheren Wert, da der Mensch gleichsam aus dieser reinen Geisteswelt in die schmutzige Welt des Fleisches und alles Materiellen gefallen sei, um fortan in einem Gefängnis zu leben, aus dem er sich wieder befreien müsse.

Das hebräische Denken kennt diese Unterscheidung nicht. Hebräisches Denken lebt mit Widersprüchen und Spannungen - darum ist auch die Bibel auch problemlos voller Widersprüche -, die dem rein logischen Denken der Griechen fremd ist: Dem Griechen kann etwas Böses nicht zugleich gut sein. Der Hebräer sieht die Welt als böse und doch zugleich gut an, weil sie nämlich Gottes gute - allerdings gefallene - Schöpfung ist.

Das ganze hebräische Denken kennt nicht den Dualismus der griechischen Philosophie. Was es später an extremen Ausformungen von Leibfeindlichkeit, Zölibat und Askese gab, ist griechischen Ursprungs, nicht biblischen.

Zitat Zitat von Provisorium
Tatsächlich ist ja z.B. in der Ideenlehre Platons, das, was wir als Materie bezeichnen, den reinen Ideen untergeordnet. Also die Idee z.B. einer Pflanze ist höherer Ordnung, als eine tatsächliche Pflanze, die lediglich als Abbild betrachtet wird, während man die ideelle Pflanze als Urbild versteht. Jedoch handelt es sich dabei keinesfalls um einen starren Dualismus, denn die tatsächliche Pflanze geht ja aus der ideellen hervor, weshalb es sich letztlich vielmehr um einen Monismus handelt, da sich die beiden nicht getrennt gegenüberstehen, sondern substantiell miteinander verbunden sind, wie z.B. Plotin betonte.
Man muß Platon auch nicht unterstellen, er habe die Welt zu einem Irrenhaus des Leidens gemacht; aber diverse Ausleger haben sich seiner Ideen bedient - ob böswillig oder einfach naiv -, um ein wahres Irrenhaus zu gestalten, das sich in keinster Weise mehr mit der Bibel deckt.

Zitat Zitat von Provisorium
Das ist auch in insofern von Bedeutung, weil es deshalb im Platonismus kein reines Böses geben kann, sondern immer nur eine Minderung des allem zugrunde liegenden Guten. Deshalb bin ich nun etwas verblüfft, wenn du schreibst, dass in der "griechischen Philosophie" die Ursache für die "christliche Leibfeindlichkeit" und die Unterscheidung und Trennung von Fleisch und Geist, Gut und Böse zu finden sei. Ich meine ja eher, dass Paulus diese Gegensatzpaare besonders betont hat...
Inwieweit Paulus "griechisch gelehrt" war, ist sicher interessant zu erforschen. Er dürfte zumindest vertraut gewesen sein mit dem Denken der Griechen, da er viele seiner Briefe an griechische Gemeinden adressiert (Korinth, Thessalonich, Philippi, Titus auf Kreta). Möglicherweise greift er darin ganz selbstverständlich deren vertrautes Denken auf, um sie zu erreichen. Die "griechischen Briefe" des Paulus sind demnach auch sehr viel dualistischer als die Briefe an andere Gemeinden. Paulus gibt darin meist klare Entweder-Oder-Ansagen, was dem griechischen Denken einleuchtender gewesen sein dürfte als mystisches Geraune, wie etwa im Epheserbrief zu lesen.

Zitat Zitat von Provisorium
Aber wie auch immer, Fakt ist jedenfalls, dass in vielen christlichen Gemeinden auch heute noch betont wird, dass z.B. vorehelicher Geschlechtsverkehr und (eventuell) auch Selbstbefriedigung Sünde sei. Außerdem werden häufig homosexuelle Partnerschaften als widernatürlich bezeichnet und schwulen/lesbischen Christen*innen wird durchaus auch immer wieder mal empfohlen ihre Sexualität nicht auszuleben, oder gar eine Therapie zu machen, weil Homosexualität als krankhafte Begierde betrachtet wird.
Ja, das finden wir vor allem im evangelikalen Raum. Mir ist ja das übersteigerte Interesse daran verdächtig. Manche christliche Foren leben allein nur noch von dieser Diskussion, als wäre es allein Aufgabe der Christen, unter fremde Bettdecken zu luschern und mit wonnevollem Entsetzen darüber zu urteilen, wer wem seinen Intimbereich zur Verfügung stellt oder nicht. Meins ist das nicht. Ich habe genug vor meiner eigenen Haustür zu kehren. Wer nach Meinung einiger Christen in Sünde lebt, der möge das prüfen und mit Gott ausmachen. Eine einfache Antwort gibt es nie, auch wenn der Fundamentalismus das gerne so hätte. Natürlich sollen auch Homosexuelle Zärtlichkeit und Partnerschaft erfahren dürfen, auch Frauen, die zwar noch verheiratet, aber deren Mann vielleicht krank oder unfähig ist, Zärtlichkeit zu geben und andersrum usw.

LG,
P.